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Leopard

Leopard

Titel: Leopard
Autoren: Jo Nesbø
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doch wohl, dass man auch den anderen Weg einschlagen kann, vom Hass zur Liebe. Dass der Hass ein guter Ausgangspunkt ist, um zu lernen, um sich zu verändern und sich beim nächsten Mal anders zu verhalten.«
    »Du klingst so optimistisch, dass ich gleich das Kotzen kriege, Harry.«
    Die Orgel setzte beim Refrain ein, schneidend und schrill wie eine Kreissäge.
    Oystein legte den Kopf etwas zur Seite und schnippte die Asche von seiner Zigarette. Und Harry hätte am liebsten geheult. Ganz einfach, weil er in der Art, wie sein Freund die Asche von der Zigarette schnippte, all die Jahre sah, die ihre Leben ausmachten, die sie ausmachten, Oysteins zur Seite geneigter Oberkörper und Kopf, als wäre die Zigarette zu schwer und als gefiele ihm die Welt aus der schrägen Perspektive besser, egal ob er nun auf den Boden des Raucherschuppens in der Schule aschte, in eine leere Bierflasche auf einer Fete, die sie gecrasht hatten, oder auf den kalten, rohen Bunkerbeton.
    »Du wirst langsam alt, Harry.«
    »Warum sagst du das?«
    »Wenn Männer beginnen, ihre Väter zu zitieren, sind sie alt. Dann ist es zu spät.« In diesem Augenblick war sie plötzlich da. Die Antwort. Die Antwort auf die Frage, die sie ihm gestellt hatte. Nach seinem größten Wunsch. Ein Panzerherz.
EPILOG
    B lauschwarze Wolken schleppten sich über den höchsten Punkt Hongkongs, den Victoria Peak, aber der Regen, der seit Anfang September unaufhörlich vom Himmel gefallen war, hatte endlich aufgehört. Die Sonne blinzelte zwischen den Wolken hervor, und ein gewaltiger Regenbogen spannte sich zwischen Hongkong Island und Kowloon auf. Harry schloss die Augen und ließ sich das Gesicht wärmen. Das gute Wetter war gerade rechtzeitig zur Eröffnung der Pferderennsaison gekommen, die am Abend im Happy Valley starten sollte.
    Harry hörte das Summen japanischer Stimmen, das sich näherte und an der Bank vorbeirauschte, auf der er saß. Es kam aus der Seilbahn, die bereits seit 1888 Touristen und Anwohner hinauf in die frischere Luft über der Stadt beförderte. Harry schlug die Augen auf und blätterte durch das Rennprogramm des Abends.
    Er hatte Herman Kluit gleich nach seiner Ankunft in Hongkong kontaktiert. Und Kluit hatte ihm einen Job als Schuldnerfinder angeboten, was bedeutete, dass er Leute ausfindig machen sollte, die ihre Schulden nicht bezahlt und sich abgesetzt hatten. So musste Kluit die Schulden nicht mehr mit beträchtlichem Rabatt an die Triaden verkaufen und sich nicht mehr mit Gedanken an ihre brutalen Mafiamethoden belasten.
    Zu behaupten, Harry gefiele seine Arbeit, wäre übertrieben, aber sie war gut bezahlt und einfach. Er brauchte die Schulden nicht einzutreiben, sondern lediglich die Schuldner ausfindig zu machen. Inzwischen hatte sich allerdings herausgestellt, dass allein seine Erscheinung – 193 Zentimeter mit einer imposanten Narbe vom Mundwinkel zum Ohr -ausreichte, dass ihm die meisten das Geld gleich aushändigten. Und er griff nur in Ausnahmefällen auf die Suchmaschine des Servers in Deutschland zurück.
    Sein Geheimrezept war, auf Dope und Alkohol zu verzichten. Was ihm bisher gelungen war.
    An diesem Tag hatten zwei Briefe an der Rezeption auf ihn gewartet. Wie sie ihn ausfindig gemacht hatten, war ihm schleierhaft. Er ahnte aber, dass Kaja etwas damit zu tun haben musste. Der eine Brief trug das Logo der Osloer Polizei – Harry tippte auf Gunnar Hagen –, über den anderen hatte er gar nicht erst mutmaßen müssen. Er hatte Olegs steile und noch immer kindliche Schrift sofort erkannt. Harry hatte beide Briefe in seine Jackentasche gesteckt, ohne einen Entschluss gefasst zu haben, ob und wann er sie lesen wollte.
    Er faltete das Rennprogramm zusammen und legte es neben sich auf die Bank. Blinzelte zum chinesischen Festland hinüber, wo der gelbliche Smog mit jedem Jahr dichter wurde. Aber hier oben auf dem Berggipfel war die Luft noch beinahe frisch. Er sah hinab ins Happy Valley. Auf die Friedhöfe im Westen der Wong Nai Chung Road, auf denen es eigene Bereiche für Protestanten, Katholiken, Muslime und Hindus gab. Er sah die Pferderennbahn und wusste, dass Jockeys und Pferde dort bereits für die abendlichen Rennen trainierten. Bald würde das Publikum auf die Rennbahn strömen, die Hoffnungsvollen, die Desillusionierten, die Glücklichen und die Unglücklichen. All jene, die kamen, um sich ihren Traum zu erfüllen, und auch die anderen, die nur zum Träumen kamen. Die Verlierer, die ein unkalkuliertes Risiko eingingen,
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