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Leopard

Leopard

Titel: Leopard
Autoren: Jo Nesbø
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fragte sich, worauf dieser hinauswollte. »Sie wollen uns sicher nur die Gelegenheit geben, unsere Meinung zu sagen, um des lieben Friedens willen.«
    »Außer wir kommen beide zu dem Schluss, dass die derzeitige Aufteilung besser ist, als alle Mordermittlungen an einem Ort zusammenzufassen«, sagte Hagen mit klappernden Zähnen.
    Bellman lachte kurz auf. »Sie sind zu dünn angezogen, Hagen.«
    »Möglich. Aber ich weiß zumindest, was ich davon halten soll, wenn die neue zentrale Mordermittlungsstelle von einem Polizisten geleitet wird, der seine Position schon einmal ausgenutzt hat, um seine jetzige Frau davor zu bewahren, wegen Drogenschmuggels verhaftet zu werden. Und das, obwohl es Zeugen gab, die sie zweifelsfrei erkannt haben.«
    Bellman hörte zu atmen auf. Spürte, dass er den Halt verlor. Dass die Schwerkraft ihn packte, seine Haare sich aufstellten und sein Magen sich zusammenzog. Das war der Albtraum, der ihn immer verfolgt hatte. Quälend im Schlaf und gnadenlos in der Wirklichkeit; der Fall ohne Seil, der Absturz eines Freikletterers.
    »Ist Ihnen kalt, Bellman?«
    »Zum Teufel mit Ihnen, Hagen.«
    »Mit mir?«
    »Was wollen Sie?«
    »Mit dem Wollen ist das so eine Sache. Das Wichtigste ist mir natürlich, dass dem Korps ein weiterer öffentlicher Skandal erspart bleibt. Die Integrität der einfachen Polizisten darf nicht in Frage gestellt werden. Und was die Umorganisation angeht …« Hagen zog den Kopf zwischen die Schultern und trat mit den Füßen auf der Stelle. »Es ist durchaus möglich, dass das Justizministerium unabhängig von unseren Stellungnahmen zu dem Schluss kommt, dass die Ressourcen an einem Ort zusammengefasst werden sollen. Wenn mir angeboten würde, eine solche Einheit zu leiten, würde ich selbstverständlich darüber nachdenken. Aber alles in allem finde ich die jetzige Lösung ganz in Ordnung. Die Mörder bekommen in der Regel ihre Strafe, nicht wahr? Wenn die andere Seite in diesem Fall meine Einschätzung teilt, würde ich mich darauf einstellen, dass wir mit den Ermittlungen sowohl in Bryn als auch hier im Präsidium fortfahren können. Was meinen Sie, Bellman?«
    Mikael Bellman spürte den Ruck, als das Seil ihn auffing. Als der Gurt sich straffte, dass es ihn fast zerriss, und ihm den Rücken zu brechen drohte. Die Mischung aus Schmerz und Ohnmacht. Er hing hilflos und schwindelig im Seil, irgendwo zwischen Himmel und Erde. Aber er war am Leben.
    »Lassen Sie mich darüber nachdenken, Hagen.«
    »Denken Sie nur. Aber nehmen Sie sich nicht zu viel Zeit. Die Deadline, Sie wissen schon. Wir müssen uns dann absprechen.«
    Bellman blieb stehen und sah Hagen nach, der zurück zum Haupteingang des Präsidiums hastete. Dann drehte er sich um und starrte über die Hausdächer von Grönland. Und die der Stadt. Seiner Stadt.
KAPITEL 93
    Die Antwort
    H arry stand mitten im Zimmer, als das Telefon klingelte. »Ich bin's, Rakel, was machst du?«
    »Ich schaue, was übrig bleibt«, sagte er. »Wenn ein Mensch stirbt.«
    »Und?«
    »Viel. Und irgendwie auch wieder nicht. Sos hat mir gesagt, was sie haben will, und morgen kommt irgendein Typ, um die Wohnung aufzulösen. Er bietet mir 50 000 für alles. Endreinigung inklusive. Das ist … das ist so …« Harry fielen die richtigen Worte nicht ein.
    »Ich weiß«, sagte sie. »Es ging mir genauso, als Vater starb. Seine Sachen, all die Dinge, die ihm so wichtig gewesen waren, so unentbehrlich, hatten plötzlich ihren Wert verloren. Als hätte er allein ihnen Bedeutung gegeben.«
    »Aber vielleicht haben wir, die zurückbleiben, auch einfach das Bedürfnis, aufzuräumen, neu anzufangen.« Harry ging in die Küche. Sah auf die Fotografien, die er unter dem Küchenschrank aufgehängt hatte. Die Fotografien aus der Sofies gate. Oleg und Rakel.
    »Ich hoffe, ihr konntet richtig voneinander Abschied nehmen«, sagte Rakel. »Das ist wichtig. Vor allem für die, die hierbleiben.«
    »Ich weiß nicht«, sagte Harry. »Im Grunde genommen haben wir uns ja nie richtig kennengelernt, wir zwei. Ich habe ihn im Stich gelassen.«
    »Wie das?«
    »Er hat mich um Sterbehilfe gebeten. Ich habe sie ihm verweigert.«
    Es war eine Weile still. Harry lauschte auf die Hintergrundgeräusche. Es klang nach einem Flughafen.
    Dann war ihre Stimme wieder da: »Findest du, dass du es hättest tun sollen?«
    »Ja«, sagte Harry. »Das finde ich. Jetzt ja.«
    »Denk nicht darüber nach. Es ist zu spät.«
    »Ist es das?«
    »Ja, Harry. Das ist es.«
    Es wurde erneut
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