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Léonide (German Edition)

Léonide (German Edition)

Titel: Léonide (German Edition)
Autoren: Charlotte Schaefer
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heimnisse voreinander gehabt.
    »Du könntest versuchen, es mir zu erklären.«
    Er schüttelt den Kopf, zuerst langsam, dann energischer. »Das hier ist kein Spiel, Léo! Es ist nicht wie früher. Du weißt nicht, wie es ist … Du hast so etwas nie erlebt. Wie könnte ich dir davon erzählen?« Dann, leiser: »Wie könnte ich irgendj e manden damit belasten?«
    Ich greife nach seiner Hand. Zuerst versucht er, sie mir zu entreißen, dann aber lässt er locker. »Du weißt, dass ich da bin, immer da bin. Du kannst mit mir reden.«
    Ich sehe ihm an, dass er meine Worte nicht ernst nimmt. Wann hat sich diese Mauer zwischen uns geschoben? Wann haben wir aufgehört, miteinander zu sprechen?
    »Ich habe etwas für dich gezeichnet«, sage ich und ziehe ein Blatt Papier aus dem Ärmel meines Kleids. »Die Abtei Mon t majour.«
    Er nimmt das Papier mit zitternden Händen entgegen und sein sturmgraues Auge huscht hastig darüber.
    »Ich bin in letzter Zeit sehr oft dort gewesen«, sage ich.
    »Montmajour«, wiederholt er. »Glaubst du, jetzt, da ich krank bin und im Sterben liege, kannst du meinen Platz ei n nehmen? Die Malerin in der Familie werden?« Er sagt es in neutralem Ton, verdrängt jedes Gefühl aus se i ner Stimme.
    Staub. Brüchiges Pergament. Raschelndes Papier. Seine Wo r te treffen mich, als hätte er mich geschlagen. Als hätte er auch mir ein sehendes Auge ausgestochen. Er drückt mir die Zeic h nung wieder in die Hand.
    »Ich weiß, dass du mir helfen willst«, sagt er etwas sanfter, »aber das kannst du nicht. Wenn ich nur wieder malen kön n te   … Aber das ist nicht möglich.«
    Ich stecke das Papier wieder ein, ohne Willem anzusehen. Ich denke an Costantini und das Medikament und daran, dass dieser alte Mann mit dem wissenden Blick mich belogen hat. Ich habe all seine Anweisungen befolgt, doch nun, da ich zum ersten Mal seit Wochen wieder mit meinem Bruder spreche, scheint ein völlig anderer Mensch aus ihm geworden zu sein.
    Dafür verachte ich Costantini.
    »Ich habe nichts gespürt«, sagt Willem in diesem Augenblick. »Ich habe das Messer genommen – das, das ich sonst zum Gravieren meiner Bilder verwende, weißt du? – und habe z u gestochen. Das viele Blut … Aber es war, als wäre mein Kö r per gar nicht da, ich habe ihn nicht gespürt.«
    Ich kann ihn nicht ansehen, will ihn nicht ansehen. »W a rum   … ?« Ich stocke. Ich weiß nicht, was ich sagen will. W a rum hast du es getan? Warum hast du nicht an deine Familie g e dacht? An mich gedacht? Vor allem aber: Warum konnte – kann – ich dir nicht helfen?
    Willem seufzt. In seinem grauen Auge scheint ein Sturm aufzuziehen, es verdunkelt sich, glänzt wie von Regen, dann blitzt etwas darin auf. »Ich kann es dir nicht sagen, Léo.« Und er wendet sich von mir ab und sagt kein Wort mehr, bis ich den Raum, das Zentrum seiner Krankheit, verlassen habe.
     
    In meinem Zimmer ziehe ich meine Zeichnung der Abtei aus dem Ärmel, dann gehe ich an meine Kommode und ne h me ein zweites Blatt aus einer der Schubladen. Es r a schelt, als ich es auseinanderfalte und die Knicke glatt streiche .
    Es ist eine Zeichnung von Willem, die mich darstellt. Die kräftigen Linien zeigen einen breiten Mund, eine schmale N a se und Augen mit dunklen Wimpern und Brauen. Die Haare hat Willem mit wenigen Strichen angedeutet. Ich lege die Zeichnung neben meine eigene und muss mir eingestehen, dass meine künstlerischen Gehversuche im Gegensatz zu se i nen präzise gesetzten Strichen furchtbar dilettantisch wirken.
    Willem hat recht: Das Malen ist nicht meine, sondern seine Aufgabe. Ganz gleich, was geschieht, sein Platz in der Familie wird immer der des Malers sein. Es ist seine Aufgabe, genauso , wie es meine ist, ihm seinen Platz zu lassen.
    Ich zögere nicht, als ich meine Zeichnung noch einmal zur Hand nehme. Das Geräusch reißenden Papiers klingt wie ein lang gezogener Seufzer. Ich werfe die Papie r fetzen aus dem Fenster, wo sie in der unbeweglichen Luft zu Boden segeln. Dann lege ich mich aufs Bett und denke an nichts mehr.
     
    Der nächste Tag bringt drückende Schwüle und Regen; vor allem aber bringt er Monsieur Gagnier, der nach Willem sieht und sein Auge erneut verarztet. Ich treffe den Arzt im Flur, wo er sich leise mit meinem Vater unterhält. Offenbar sind sie zu dem Schluss gekommen, Willem noch heute nach Saint-Paul-de-Mausole in Saint-Rémy-de-Provence zu bringen. Sein Zustand hat sich über Nacht wieder verschlechtert, er hat g e schrien und
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