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Léonide (German Edition)

Léonide (German Edition)

Titel: Léonide (German Edition)
Autoren: Charlotte Schaefer
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von einer Gestalt gesprochen, die ihn in der Du n kelheit aufsuche.
    Nachdem Gagnier meinem Vater versichert hat, alles Nötige zu veranlassen, und versprochen hat, meinen Bruder am Nachmittag persönlich abzuholen und mit der Kutsche nach Saint-Rémy zu bringen, verabschiedet sich mein Vater herzlich von ihm. Offenbar ist er zu der Überzeugung gelangt, dass Willem im Kloster Saint-Paul-de-Mausole schnell genesen wird. Was mich angeht, habe ich noch immer meine Zweifel, bin mir inzwischen aber darüber im Klaren, dass Saint-Paul-de-Mausole Willems einzige Hoffnung ist.
    Als mein Vater den Flur verlassen hat, schlüpfe ich leise nach draußen. Gagnier ist noch nicht weit gekommen – ich sehe ihn am anderen Ende der Straße und rufe ihn zurück. Er dreht sich überrascht zu mir um und ich laufe ihm entgegen.
    »Monsieur Gagnier! Entschuldigen Sie, ich sollte Sie nicht aufhalten, aber … haben Sie vielleicht einen Moment Zeit?«
    Gagnier nickt und mustert mich aus seinen braunen Augen. Nicht zum ersten Mal fällt mir auf, dass er übermüdet au s sieht, sein dunkles Haar ihm stumpf in die Stirn fällt. Unter seinen Augen liegen Ringe von der Farbe reife r Auberg i nen. Als seine blassen Lippen ein Lächeln formen, wirkt er plöt z lich wesentlich jünger als noch einen Sekundenbruc h teil zuvor.
    Eine Weile schlendern wir schweigend nebeneinander her. Die Stille scheint ihn genauso wenig zu stören wie mich. Die Luft ist warm und stickig und es riecht noch immer nach R e gen, doch das beständige Nieseln hat aufgehört. Schließlich setzen wir uns auf eine Parkbank, wo ich die Phiole mit Wi l lems Medikament aus d er Tasche ziehe.
    »Sagt Ihnen der Name Costantini etwas?«, frage ich Gagnier.
    Er nickt und fährt sich mit der Hand über sein stoppeliges Kinn. »Er gilt als brillanter Alchimist und Mediziner. Wieder andere halten ihn bloß für einen Scharlatan. Ich kenne ihn nicht persönlich, würde aber auf ein Treffen verzichten, wenn es sich mir böte.«
    »Warum?«
    Gagnier seufzt und streicht sich die Haare zurück. »Über Costantini sind Geschichten im Umlauf, Mademoiselle – G e schichten über Experimente am lebenden Körper. Es heißt, er erforsche das menschliche Gehirn als Verursacher von Schmerzen, physischen und psychischen Krankheiten. Man erzählt sich, er wolle dem Tod ein Schnippchen schlagen.« Gagnier verstummt, doch seine Worte verharren noch lange in der Luft. Er scheint eigenen Gedanken nachzuhängen, sein dunkler Blick schweift in die Ferne.
    Experimente am lebenden Körper. Krankheiten. Schmerzen. Tod. Wem um Himmels willen habe ich da bloß das Leben meines Bruders anvertraut? Warum habe ich geglaubt, seine Medikation selbst übernehmen zu können? Ich hätte mich viel früher an Gagnier wenden sollen.
    »Warum fragen Sie?« Gagnier wirkt neugierig. »Sie stehen doch nicht etwa mit Costantini in Kontakt? Selbst, wenn das, was man sich über ihn erzählt, nicht der Wahrheit entspricht, wäre ich vorsichtig, Mademoiselle. Ich glaube nicht, dass Costantini der richtige Umgang für Sie ist.«
    Als mir bewusst wird, was ich getan habe, kann ich die Tr ä nen, die sich in mir aufgestaut haben, nicht länger zurückha l ten. Was, wenn das Medikament, das Costantini mir gegeben hat, meinem Bruder Schaden zugefügt hat? Seinen Zustand noch verschlimmert hat? Wenn ich schuld bin an Willems Z u sammenbruch?
    »Was ist mit Ihnen?«, fragt Gagnier erschrocken.
    Ich schüttle den Kopf und unterdrücke meine Tränen. Mo n sieur Gagnier reicht mir ein Taschentuch, und ich tupfe mir das Gesicht ab und atme, so langsam ich kann.
    »Sie werden mir böse sein«, sage ich und schaue auf, wobei unsere Blicke sich treffen und etwas in meinem Inneren wie gelähmt zu verharren scheint. Ich spüre, wie die schmerzhafte Anspannung, die sich zwischen uns auftut, meinen ganzen Körper ergreift und festhält. Nicht nur Angst um Willem, sondern noch etwas anderes, das ich nicht benennen kann.
    »Ich habe einen Fehler gemacht. Ich habe Costantini ein Medikament für Willem mischen lassen und verabreiche es ihm seit zwei Wochen jeden Tag.«
    Gagnier lässt sich nicht anmerken, was er denkt, doch ich sehe, dass es hinter seinen Augen arbeitet.
    »Wie oft?«, fragt er. »Wie viel?«
    Ich reiche ihm die Phiole mit der Arznei. »Ich habe ihm fünf Tropfen gegeben, einmal täglich.«
    Lange betrachtet er das Fläschchen, ohne zu sprechen. Kein Wort des Tadels, aber auch keines, das mich beruhigen könnte.
    »Ich werde das hier
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