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Léonide (German Edition)

Léonide (German Edition)

Titel: Léonide (German Edition)
Autoren: Charlotte Schaefer
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ein Wort, irgendein Zeichen.
    »Mademoiselle Géroux?«
    Die Stimme klingt wie brüchiges Pergament, staubig und verwittert. Das Licht der Laterne nähert sich mir, im nächsten Augenblick tritt die dunkel umrissene Gestalt eines hochg e wachsenen Mannes vor mich. Er hebt die Gaslaterne, und ich blicke in Costantinis Gesicht.
    Seine Haut ist wettergegerbt und wächsern und wirkt, als könn t e sie jeden Moment abblättern wie zu dick aufgetragene Farbe. Sein Körper wirkt alt und zerbrechlich, doch sein Haar, seine Augenbrauen und seine Lippen zeugen von einer Vital i tät, die in scharfem Kontrast zu seinem körperlichen Alter steht. Das Auffälligste aber sind seine Augen, die im Gaslicht eisblau leuchten. Bei keinem anderen Menschen habe ich je ein Paar so heller Augen gesehen, und in diesem Gesicht, das von Weisheit und einem scharfen Intellekt zeugt, wirken sie sowohl fehl am Platze als auch bedrohlich.
    Seine Kleidung ist abgewetzt, aber gepflegt und pec h schwarz. Kein Wunder, dass ich ihn nur dank der Gaslaterne entdeckt habe – sie verhindert, dass er vollkommen mit der Dunkelheit verschmilzt. Mir kommt der Gedanke, dass Willem großen Gefallen am ihm, dem alten Mann mit dem klugen, beinahe jungenhaften Gesicht finden würde, der wie er ein Freund der Nacht zu sein scheint.
    »Costantini«, sage ich, und er verbeugt sich in einer einzigen fließenden Bewegung, die ich ihm nicht zugetraut hätte. Dann entblößt er ein Lächeln wie ein Feuer, das einen wä r men, aber auch verbrennen kann. Sein Mantel schwingt um seine Beine.
    »Haben Sie das Elixier?«
    »Wie versprochen, Mademoiselle«, sagt er mit dieser Stimme, die nach Weisheit klingt und nach raschelndem Papier. »Und sie? Haben Sie das Geld bei sich?«
    Wir sind also bereits an dem Punkt angelangt, an dem ich keine Kompromisse eingehen kann. Plötzlich fürchte ich, dass Costantini nicht mit sich verhandeln lassen wird, sobald er e r fährt, dass ich den vereinbarten Betrag nicht bei mir habe. Ich entschließe mich zu einer Verzweiflungstat und reiche ihm den Lederbeutel. Mein Körper ist so angespannt, dass ich den Schmerz in meinem Nacken fühle, hinter meinen Augäpfeln, in meinen Zahnwurzeln. Ich rechne jede Sekunde damit, dass er den Beutel öffnen und das Geld nachzählen wird. Ich halte ihn nicht für einen Mann, der sich so leicht hinters Licht fü h ren lässt.
    Doch Costantini steckt den Beutel ein und fragt nicht weiter nach. Lächelnd zieht er eine Phiole aus der Manteltasche, w o bei seine Augen ohne Unterbrechung auf mir ruhen. Er reicht sie mir wortlos.
    »Geben Sie Ihrem Bruder jeden Tag fünf Tropfen in einem Glas Wasser. Auf keinen Fall mehr, hören Sie? Dosieren Sie es richtig, wird es ihm schnell besser gehen. Aber bereits ein Tropfen zu viel kann ihn noch kränker machen, und bei übermäßig hoher Dosierung wird die Arznei ihn töten.«
    Ich nicke und starre die durchsichtige Flüssigkeit an, die in der Phiole schimmert. Fünf Tropfen täglich, präge ich mir ein. Es erscheint mir unglaublich, dass ein Elixier, das aussieht wie Wasser, über Wohlergehen und Tod eines Menschen entsche i den kann.
    »Danke, Monsieur.«
    Costantini schüttelt den Kopf und klimpert zur Antwort mit den Münzen in seiner Tasche. Wieder lächelt er, und mir fällt auf, wie ungewöhnlich gepflegt und weiß seine Zähne sind. Ein weiterer Umstand, der nicht zu seinem körperlichen Alter zu passen scheint.
    Ich stecke die Arznei in die Tasche und ziehe meinen Mantel enger um die Schultern, darum bemüht, nicht allzu nervös zu wirken.
    Kümmern Sie sich gut um Ihren Bruder. Willem, nicht wahr?« Der Ausdruck in seinen hellen Augen ist freundlicher, als ich erwartet hätte.
    Ich nicke und weiche seinem Blick aus.
    »Willem«, wiederholt er. »Ich habe das Gefühl, dass seine Geschichte noch nicht erzählt ist.« Mit diesen Worten und e i nem letzten Nicken wendet er sich von mir ab.
    Das Licht seiner Gaslaterne wird immer kleiner. Ich warte, bis es von der Dunkelheit verschluckt worden ist, dann mache auch ich mich auf den Heimweg.
     
    Erst, als die Haustür hinter mir zugefallen ist und ich sie zweimal von innen abgeschlossen habe, wage ich es, ruhiger zu atmen. Was wäre geschehen, wenn ich Costantini die Wahrheit gesagt hätte? Hätte er mir die Arznei dann überhaupt ausg e händigt?
    Ich bemühe mich, leise zu sein. Schnell schleiche ich die St u fen ins obere Stockwerk hinauf und verschwinde in meinem Zimmer. Meine Eltern sollen nichts von meinem
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