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Léonide (German Edition)

Léonide (German Edition)

Titel: Léonide (German Edition)
Autoren: Charlotte Schaefer
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der Berührung wird er langsam ruhiger; er schließt die Augen, sein Körper entspannt sich. Nur seine Augen rollen noch i m mer unter den Lidern.
    Ich greife erneut nach dem Wasserkrug und schenke etwas davon in den Becher, der auf dem Nachttisch steht. Dann zi e he ich die Phiole aus der Tasche. Ich achte genauestens darauf, dass ich nicht weniger, vor allem aber nicht mehr als fünf Tropfen der Arznei ins Wasser gebe.
    Willem sein Medikament zu verabreichen, erweist sich als schwieriger als gedacht. Anfangs hat er einen Moment der Klarheit, dann aber schlägt er wieder um sich und ich lasse den Becher mit der wertvollen Flüssigkeit beinahe fallen. Erst nach mehreren Versuchen gelingt es mir, ihn zum Trinken zu bew e gen. Danach warte ich, bis er eingeschlafen ist.
    Der Anfang ist getan; bald wird es meinem Bruder besser gehen . Ich kann den Tag kaum erwarten . Ich werde wieder mit ihm sprechen können, ohne dass er Verwirrendes von sich gibt und um sich schlägt; wir werden wie früher lange Spaziergänge unternehmen, er mit Papier und Bleistift ausgestattet, um u n terwegs zeichnen zu können. Ich werde ihm beim Malen zus e hen, werde beobachten, wie er die Leinwand zum Leben e r weckt und der Natur mal ein dunkles, mal ein leuchtendes G e sicht gibt. Dann wird es auch mir wi e der besser gehen , und ich werde meine Träume und die zahllosen Spuren an meinen Handgelenken, die Willem mir im Delirium zugefügt hat, ve r gessen.
     
    Als die Tage verstreichen, ohne dass sich Willems Zustand bessert, verfalle ich in Sorge. Manchmal habe ich den Ei n druck, es ginge ihm schlechter und nicht besser, wie Costantini es mir versprochen hat. Seine Halluzinationen sind inzwischen seine ständigen Begleiter, sein Fieber steigt noch immer, und in den seltenen Phasen der Klarheit quälen ihn Schmerzen und Atemnot. Ich glaube, dass er dem Licht und der Hitze der sü d französischen Sonne nicht mehr gewachsen ist , und überzeuge unsere Eltern davon, die Läden in seinem Zimmer ab jetzt g e schlossen zu halten.
    Seit meinem Traum von Willem und Costantini haben mich keine Albträume mehr gequält. Ich habe kaum mehr an meine Erlebnisse oder Costantini und das Geld gedacht, um das ich ihn betrogen habe und das einzufordern er nun keine Mö g lichkeit mehr hat.
    Indes wächst die Sorge meiner Eltern zu Verzweiflung, was schlimm mit anzusehen ist. Nach zehn Tagen, in denen Wi l lems Zustand schlechter und schlechter geworden ist, beginnt sich die Sorge in Resignation zu verwandeln. Das mit anzus e hen ist noch schlimmer. Wenn ich mich nicht gerade um Wi l lem kümmere, verbringe ich die Tage damit, meinen Eltern aus dem Weg zu gehen, um ihre Gesichter nicht sehen zu müssen. Cornélie, meine Mutter, sitzt den ganzen Tag neben Willems Bett und starrt in sein Gesicht, als woll t e sie es sich genauestens einprägen. Ich weiß, sie fürchtet das Schlimmste und will es nicht wahrhaben. Wenn Théodore, mein V a ter, von seiner Arbeit als Lehrer nach Hause kommt, verbringt er den Abend in seinem Sessel vor dem Kamin, wo er ins Feuer schaut und die Flammen sein Gesicht alt und müde auss e hen lassen.
    Ich mache lange Spaziergänge durch Arles und außerhalb, um mich abzulenken und mir keine Möglichkeit zu geben, über das nachzudenken, was mit Willem geschieht. Ich schiebe es von mir, will nichts davon hören, kann es nicht ertragen, bin nicht bereit .
    Am häufigsten besuche ich die Abtei Montmajour mit ihrem Gemäuer aus weißem Stein. Dann setze ich mich auf einen Felsen, um die Landschaft mit ihren zwischen Silbergrün, Gold und Blau changierenden Olivenbäumen, den dunklen Zypressen, den violettblauen Lavendelfeldern und den schräg abfallenden Weinbergen in mir aufzunehmen, auf ein Geda n kengemälde in meinem Inneren zu bannen, während die So n ne mir unbarmherzig auf den Rücken brennt und die Steine und vertrockneten Nadeln der Pinien erwärmt. Häufig verfo l gen mich der ohrenbetäubende Gesang der Zikaden und das Gleißen der mediterranen Sonne bis in den Schlaf.
    Als ich zwei Wochen nach meinem Treffen mit Costantini von einem meiner Ausflüge nach Hause komme, kommt me i ne Mutter mir am Treppenabsatz entgegen. Ich weiß sofort, dass etwas nicht stimmt, noch ehe sie den Mund öf f net. Sie hat ihren Platz neben Willems Bett verlassen. Ich schiebe mich an ihr vorbei ins Haus und stolpere beinahe über meinen V a ter, der reglos im Flur steht und niemanden ansieht, meine Mutter nicht, mich nicht.
    »Was ist los?«
    Keine
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