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Lenas Flucht

Lenas Flucht

Titel: Lenas Flucht
Autoren: Polina Daschkowa
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diesmal wie gewohnt die Hand ausstreckte, griff sie ins Leere. Sie schaltete das Licht im Korridor ein, suchte am Boden des Schranks, schüttelte alle darunter stehenden Schuhe aus. Die Schlüssel waren nicht da.
    »Ruhig bleiben«, befahl sich Lena, »du hast einfach vergessen, sie zurückzuhängen. Setz dich hin und denk nach, wo sie liegen könnten. Du mußt nur richtig suchen. Aber zuerst kommt dieses Zeug raus.« Sie stellte plötzlich fest, daß sie laut mit sich selber sprach.
    Lena holte also ihr Schlüsselbund aus der Handtasche und öffnete die Tür. Ihre Hände zitterten noch ein wenig, und die Schlüssel schlugen mit einem Klirren auf dem gekachelten Treppenabsatz dicht neben dem Fußabtreter auf. Als sie sich bückte, um sie aufzuheben, erblickte sie neben dem Abtreter eine Zigarettenkippe. Sie war ganz frisch und stank widerwärtig.
    Lena stürzte zum Müllschlucker, warf das Päckchen mit den Sachen aus dem Krankenhaus hinein, huschte in die Wohnung zurück, schlug die Tür hinter sich zu und legte die Kette vor. Dann ließ sie sich auf das niedrige Telefontischchen im Korridor sinken. Sie zitterte am ganzen Leib, und ihr Herz schlug zum Zerspringen. Sie suchte sich zu beruhigen, indem sie langsam tief durch die Nase atmete und dabei mitzählte, um die panischen Gedanken aus ihrem Kopf zu verscheuchen.
    Aber schon beim zweiten Atemzug fuhr sie hoch und stieß die Toilettentür auf, die nur angelehnt war. Es roch … nach Männerpisse. Sie schaltete das Licht ein. Diese Schweine spülten nicht einmal nach. Wütend kippte Lena fast eine ganze Flasche Spülmittel in das Becken. Dann drehte sie das Gas unter dem Teekessel ab, in dem das Wasser inzwischen kochte, und zwang sich, ihre beiden Zimmer gründlich und ohne Eile zu durchsuchen.
    Sie wollte so gern glauben, daß außer den Schlüsseln noch etwas fehlte, daß es gewöhnliche Einbrecher gewesen waren.
    Aber die 1500 Dollar, die sie für ein Auto gespart hatte, lagen unberührt in der obersten Schreibtischschublade. Die hätte ein Dieb sofort entdeckt. In einem Holzkästchen zwischen billigem Silberschmuck die goldenen Ohrringe ihrer Urgroßmutter mit echten Brillanten und ein schmaler Ring mit einem Smaragd, den ihr der Vater zum 16. Geburtstag geschenkt hatte. Alles war da, und das Kästchen stand, für jeden sichtbar, mitten auf der Frisiertoilette.
    Sollte sie die Miliz anrufen? Aber was wollte sie melden? »Meine Ersatzschlüssel sind weg, vor meiner Tür liegt eine Kippe und in der Toilette riecht es nach Männerpisse?« Das war wohl nichts. Sie brauchte einen guten Anwalt, der ihr raten konnte … Einen Anwalt. Und zwar sofort.
    Lena schaute auf das Telefontischchen, wo ihr altes, abgeschabtes Notizbuch lag. Es enthielt die Telefonnummern aller ihrer Bekannten der letzten fünfzehn Jahre – von Kommilitonen, Kollegen, Freunden, Bekannten, Menschen, die sie irgendwann interviewt, Autoren, deren Werke sie herausgebracht hatte.
    Dieses Buch nahm Lena niemals mit aus dem Haus und legte es nie an einen anderen Ort. Es war mit dem Telefontischchen verwachsen, zu einem Teil von ihm geworden, weshalb man es auch kaum bemerkte.
    Das Notizbuch war nicht da. In dem Augenblick, als Lena dies feststellte, klingelte das Telefon. Mit einem Ruck hob sie ab. Endlich eine menschliche Stimme, ganz egal, von wem, die sie aus diesem Alptraum aufweckte …
    »Hallo …!«
    Schweigen.
    Schweigen am Telefon kann man von einem Schaden in der Leitung durchaus unterscheiden: Es ist lebendig, es atmet, es wirkt unheimlich. Aber Lena sagte, bevor sie auflegte: »Ich kann Sie nicht hören. Wählen Sie bitte noch einmal.«
    Jetzt war keine Zeit mehr, um zu sich zu kommen und lange zu überlegen. Lena schlüpfte in ein weites gewirktes Kleid, warf Zahnbürste, Zahnpasta, Shampoo, noch verpackteStrumpfhosen, einige T-Shirts und weitere Kleinigkeiten in ihren kleinen ledernen Rucksack. Sie steckte die noch feuchten Haare auf und wickelte sich einen Wollschal um den Kopf. Stiefel, den langen, warmen Mantel, den Rucksack, die Handtasche … Nach kurzem Überlegen lief sie ins Zimmer und nahm die Dollars aus dem Schubfach. Dann steckte sie sich Papas Ring an den Finger und ließ Urgroßmutters Ohrringe in die Manteltasche gleiten. Den Schal noch einmal abzunehmen und sie anzulegen war keine Zeit. Noch schnell den Presseausweis.
    Bevor Lena die Tür zuschlug, schob sie unter den Teppich im Flur und unter den Abtreter vor der Tür je eine kleine Ampulle mit Jod.
    Der Fahrstuhl war
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