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Lenas Flucht

Lenas Flucht

Titel: Lenas Flucht
Autoren: Polina Daschkowa
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»Ist der Tropf angelegt?«
    »Noch nicht, Boris Wadimowitsch. Die Kranke hat doch geschlafen. Wie sollte ich da den Tropf anlegen?«
    »Warum haben Sie sie nicht geweckt?«
    »Das habe ich versucht, aber sie hat doch Promedol gekriegt«, rechtfertigte sich Oxana. Sie trat so dicht an Simakowheran, daß er ihre straffe Brust spürte. »Keine Sorge. Sie ist eben von selbst aufgewacht. Wir fangen gleich an.«
    Walja, deren Blick durch das Zimmer irrte, fiel plötzlich auf, daß die hübsche Handtasche der Patientin nicht mehr auf dem Schreibtisch stand. Ihre Kleider hatte sie selber in die Aufbewahrung getragen, aber ihre Tasche mit dem Paß war zurückgeblieben. Als dann das Krankenblatt endlich ausgefüllt war, hatte die Aufbewahrung bereits geschlossen. Auch der grüne Operationskittel hing nicht mehr über der Stuhllehne.
    Dumm sind Sie nicht, Lena Poljanskaja, dachte Walja bei sich. Laut sagte sie:
    »Entschuldigen Sie bitte, Boris Wadimowitsch. So bin ich eben – immer interessieren mich Sachen, die mich nichts angehen. Wir fangen jetzt gleich an.«
     
    Im Keller war es dunkel. Nur der Mond schien schwach durch das trübe, halb geöffnete Fenster hoch oben unter der Decke.
    Mit den nackten Füßen über den schmutzigen Boden zu laufen war widerlich, aber Lena entschloß sich, den Keller ganz zu erkunden. Zwar hatten sich ihre Augen inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, aber sie konnte sich nur tastend vorwärts bewegen. Sie hielt sich dicht an der Wand. Am meisten fürchtete sie, sie könnte auf eine Ratte treten.
    Der Keller war vollgestopft mit ausrangierten Möbeln, Bündeln alter Wäsche und allem möglichen Gerümpel. Unter dem Fenster standen einige Sperrholzkisten. Es war das einzige, von dem man das Metallgitter abgeschlagen hatte.
    Die Kisten erwiesen sich als so stabil, daß sie sie zu einer Art Treppe aufstapeln konnte. Sobald es hell wurde, wollte sie hinausklettern und die nächste Milizstation aufsuchen. Aber was sollte sie dort erzählen? Egal, das kam später …
    Aus den Kisten ragten Nägel, an denen sich Lena Hände und Füße blutig riß. Sie öffnete eines der Wäschebündel, zerrte ein paar verschlissene Bettücher heraus, nahm ihreganze Konstruktion noch einmal auseinander, umwickelte jede Kiste sorgfältig mit den Laken und stellte sie wieder auf. Dann setzte sie sich auf die unterste Stufe und ließ ihre Füße auf einem weichen Wäschebündel ruhen.
    An Schlaf war nicht mehr zu denken. Lena machte es sich bequem und begann darüber nachzugrübeln, was eigentlich mit ihr geschehen war.
    Der betagte Arzt hatte ihren Bauch mit einem widerlichen Gel eingerieben, um eine Ultraschalluntersuchung vorzunehmen. Lange starrte er auf den flimmernden Bildschirm und wiegte schließlich besorgt den Kopf. Da war es sechs Uhr abends gewesen …
    Als man ihr mitgeteilt hatte, ihr Kind sei tot, wischte sich Lena den Bauch mit einem Handtuch ab und schnürte ihre hohen Stiefel zu. Dem netten Doktor glaubte sie kein Wort. Daher war sie vollkommen ruhig. Aber er hielt sie ganz unmotiviert am Handgelenk fest und fühlte ihr den Puls.
    »Moment mal, Kindchen, nicht so schnell! Wo wollen Sie denn hin in Ihrem Zustand? Warten Sie, ich gebe Ihnen eine Spritze, und Sie bleiben noch ein bißchen bei mir sitzen, bis Sie sich beruhigt haben. Inzwischen schreibe ich Ihre Überweisung aus. Sie müssen morgen früh sofort ins Krankenhaus.«
    Der Arzt hatte warm und einfühlsam zu ihr gesprochen, dabei ihren Arm nicht losgelassen und ihr tief in die Augen geschaut. Sein Name wollte Lena nicht einfallen. Aber dieses intelligente, gütige Gesicht mit dem gepflegten grauen Bärtchen stand ihr deutlich vor Augen.
    Danach hatte sie einen absoluten Filmriß. Bis sie in diesem Krankenbett wieder aufgewacht war.
    Plötzlich durchfuhr Lena ein kalter Schreck: Wenn er ihr nun mit dem Schlafmittel etwas gespritzt hatte, das die Wehen auslöste? Wenn sie jetzt in diesem staubigen Keller ein winziges Kind zur Welt brachte, das in ihren Armen starb?
    Lena schloß die Augen und lauschte in sich hinein. Nein, ihr tat nichts weh, nur das Herz schlug immer noch heftig,und ihre Knie zitterten. Völlig unerwartet für sich selbst sprach sie zum ersten Mal zu ihrem Kind: »Es ist alles in Ordnung, du Krümel. Wir beide stehen das durch.« Da spürte sie unter der Hand, die auf dem prallen Bauch lag, eine winzige Bewegung. So zart und geheimnisvoll war dieses Gefühl, daß sie für einige Momente völlig vergaß, wo sie war, gebannt von
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