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Lenas Flucht

Lenas Flucht

Titel: Lenas Flucht
Autoren: Polina Daschkowa
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Moskau?«
    »Lesnogorsk«, antwortete Stepanow achselzuckend. »Bis Moskau sind es vierzig Minuten mit dem Vorortzug.«
     
    Der diensthabende Milizionär schaute sich die so merkwürdig gekleidete Bürgerin lange an und blätterte in ihrem Paß. Es war sechs Uhr morgens, und er wollte nur noch in sein Bett. Mit einem langen Gähnen gab er ihr schließlich den Paß zurück und meinte: »Ich habe immer noch nicht begriffen, was Sie eigentlich anzeigen wollen, Bürgerin. Hat man Sie ausgeraubt? Oder vergewaltigt? Was ist passiert?«
    »Schon gut, danke, entschuldigen Sie. Ich will überhaupt nichts anzeigen …«
    Niedergeschlagen ließ sich die Frau auf eine Bank fallen und begann bitterlich zu weinen. Das brachte den jungen Diensthabenden völlig durcheinander.
    »Na, na, was soll denn das?« Er erhob sich und hielt ihr seine Zigaretten hin. »Da, nimm eine und beruhige dich.«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Danke, ich rauche nicht. Aber vielleicht kann man sich hier irgendwo waschen?«
    »Natürlich. Komm. Moment, ich hab’ sogar ein Paar Hausschuhe. Nachts tun mir in den Schuhen immer die Füße weh. Schlüpf rein.«
    »Vielen Dank.« Lena lächelte schwach.
    Als sie zurückkam, gewaschen und gekämmt, sah der Diensthabende, daß sie eine Schönheit war. Und für fünfunddreißig hätte er sie nie gehalten. Langes dunkelblondes Haar, große graue Augen, eine hohe, leicht gewölbte Stirn, auf der man lesen konnte, daß sie gebildet war.
    »Ich habe frischen Tee gebrüht, bedienen Sie sich. Und hier sind Papier und Stift. Schreiben Sie doch besser eine Anzeige.«
    Lena schlürfte den starken, süßen Tee und begann zu schreiben: »Ich, Poljanskaja, Lena, geboren 1960, wohnhaft Moskau, Nowoslobodskaja Nr. …«
    »An wen soll ich das Schreiben richten?« fragte sie und hob den Blick zu dem jungen Milizionär.
    »An den Chef der Milizdienststelle Lesnogorsk des Ministeriums für Innere Angelegenheiten, Hauptmann Sawtschenko.«
    Lenas Bericht füllte zwei Seiten. Sie schrieb, daß man sie während der Untersuchung beim Frauenarzt eingeschläfert hatte, daß sie in einem Krankenhausbett aufgewacht war und einem Gespräch der Schwestern entnommen hatte, man wolle bei ihr künstliche Wehen auslösen. Wie sie aus dem Krankenhaus flüchtete, die Nacht im Keller verbrachte, wo sie bei einer Suchaktion durch puren Zufall nicht gefunden wurde.
    »Ich weiß nicht, was der Zweck des Ganzen war«, schloß sie, »wer mich und mein Kind haben wollte (ich bin in der 26. Woche schwanger), aber es ist offensichtlich, daß man mich gegen meinen Willen mit Gewalt festgehalten hat.« Datum und Unterschrift.
     
    Der Jeep der Miliz holperte ohne Eile über die Leningrader Chaussee. Lena zitterte, obwohl man ihr eine Wattejacke um die Schultern gelegt hatte. Erst jetzt spürte sie, wie erschöpft sie war. Die Anzeige ließ ihr keine Ruhe. Vielleicht hätte sie sie doch nicht schreiben sollen …
    Zu Hause angekommen, warf sie die Krankenhaussachen ab und nahm erst einmal eine heiße Dusche. Sie wusch sich lange und gründlich. Allmählich wurde ihr warm. Nach und nach fielen die Erlebnisse dieser unheimlichen Nacht von ihr ab.
    Warum habe ich nicht erwähnt, daß bei der Suche im Keller der Name Sotowa fiel? Bestimmt hat die etwas mit der Sache zu tun. Aber wer weiß, ob überhaupt jemand meiner Anzeige nachgeht. Die haben auch so genug Ärger. Sei’s drum. Soll das alles doch verschwinden wie ein schrecklicher Traum. Lena wollte nur noch in ihr sauberes Bett, die Beine ausstrecken, ein paar Stunden schlafen und alles, alles vergessen …
    Als sie, in einen flauschigen Bademantel gehüllt, aus dem Bad kam, setzte sie den Teekessel aufs Gas, wählte die Nummer ihres Verlages und sprach dem Chefredakteur auf den Anrufbeantworter, sie komme erst gegen 14.00 Uhr, weil sie sich nicht wohl fühle.
    Dann ging sie noch einmal ins Bad, hob die Sachen aus dem Krankenhaus mit spitzen Fingern auf und ließ sie in eine Plastiktüte fallen, um sie sogleich, bis das Teewasser kochte, in den Müllschlucker auf dem Treppenabsatz zu werfen.
    Seit ihren Kindertagen war es Lena gewohnt, nach dem Schlüsselbund zu greifen, wenn sie den Müll hinaustrug. Wie schnell konnte die Tür mit dem englischen Schloß hinter ihr zufallen. Die Reserveschlüssel von Wohnung und Briefkasten hingen am Haken des Wandschranks im Korridor. Lena nahm sie ganz mechanisch, wenn sie den Müll entsorgte oder die Zeitung holte, und hängte sie zurück, ohne nachzudenken.
    Als sie
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