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Lenas Flucht

Lenas Flucht

Titel: Lenas Flucht
Autoren: Polina Daschkowa
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besetzt. Lena wollte nicht warten und nahm die Treppe. Zwei Stockwerke weiter unten hörte sie, daß der Fahrstuhl auf ihrer fünften Etage hielt. Wie von Sinnen stürzte sie die Stufen hinab.
    Vor der Haustür stand ein Krankenwagen, das übliche schmutzigweiße Gefährt mit roten Streifen und einer großen 03 auf beiden Seiten. Der Fahrer, der am Steuer saß und rauchte, nahm von der Frau, die aus der Haustür trat, keine Notiz. Lena ging rasch vorbei, zwang sich dann aber noch einmal zurückzuschauen, um sich die Nummer zu merken. So schnell sie konnte, lief sie zur nächsten Metrostation. Den eisigen Nieselregen spürte sie kaum.

Viertes Kapitel
    Als Amalia Petrowna Sotowa morgens gegen halb fünf nach Hause kam, fühlte sie sich völlig zerschlagen. Vor einer Stunde hatte man sie über Handy angerufen und ihr mitgeteilt, die Wohnung sei leer. Sie hatte angeordnet, einen Zweitschlüssel, ein Telefonbuch und, wenn möglich, ein Foto der Besitzerin mitzunehmen, dabei aber keine Spuren zu hinterlassen und ihr im Wagen in der Nähe aufzulauern.
    Amalia Petrowna liebte ihre geräumige, klinisch reine und gemütlich eingerichtete Wohnung, in die sie zwei Jahre zuvor aus einer winzigen Einzimmerhöhle gezogen war. Seit der Scheidung von ihrem letzten Mann vor zwölf Jahren lebte sie allein. Kinder hatte sie nicht.
    Amalia Petrowna war alles zuwider, was mit Schwangerschaft, Entbindung und quäkenden Säuglingen zu tun hatte. Unter den Wehen wurde jede, auch die stärkste Frau zu einem hirnlosen Weib, das nur noch vor Schmerzen schrie. Wo blieben da Schönheit, Geist und Würde? Amalia Petrowna würde nie verstehen, weshalb eine Frau, die solchen Schmerz und solche Demütigung ertragen hatte, unbedingt zum zweiten oder gar zum dritten Mal gebären wollte. Dieser Fortpflanzungstrieb ekelte sie an.
    Allerdings genoß sie die Macht, die sie über das Weib und das kleine, puterrote, glitschige Etwas hatte, das aus deren Leib kroch. Aus diesem Etwas konnte alles werden – ein stumpfsinniger Spießer, ein Genie oder gar ein Mörder. Wenn es jedoch auf diese Welt kroch, waren es selbst und seine Mama ihr hilflos ausgeliefert. Eine falsche Bewegung, ein kleines Zögern, wie es immer wieder passiert … Steht doch in den medizinischen Lehrbüchern schwarz auf weiß: »Die häufigsten Fehler mit letalem Ausgang kommen in der Praxis von Gynäkologen und Hebammen vor … Kunstfehler in der ärztlichen Praxis sind keine Verbrechen und daher nicht strafbar.«
    Nein, Amalia Petrowna war keine Sadistin. Sie galt als hervorragende, äußerst erfahrene Ärztin. Aber manchmal, sehr selten, erlaubte sie sich solch einen kleinen Aussetzer. Dieses Recht auf den Irrtum, von dem Leben und Tod abhingen, stand ihr zu, gab ihr ein Gefühl der eigenen Macht und Bedeutung …
    Gegen halb acht wurde sie vom Telefon geweckt.
    »Guten Morgen, Amalia Petrowna. Hier ist Hauptmann Sawtschenko. Mir liegt eine Anzeige gegen Sie vor.«
    »Was für eine Anzeige? Was ist los?« Amalia Petrownarieb sich die Augen. Sie war noch nicht richtig wach, und eigentlich erwartete sie einen ganz anderen Anruf.
    »Die kann ich Ihnen wohl kaum am Telefon vorlesen. Wenn Sie wollen, komme ich in einer Stunde bei Ihnen vorbei. Einverstanden?«
    »Reden Sie doch Klartext, was für eine Anzeige?«
    »Regen Sie sich nicht auf, Amalia Petrowna, nichts Schlimmes, irgendwelcher Unsinn. Aber reden müssen wir.«
    »Also gut. Ich erwarte Sie.«
    Hauptmann Sawtschenko begriff durchaus, daß diese Anzeige kein Unsinn war. Unterleutnant Kruglow hatte nicht umsonst nach seinem Nachtdienst auf ihn gewartet, um Sawtschenko persönlich Meldung zu machen.
    Als dieser den in Schönschrift verfaßten Bericht las, dröhnte es in seinem Kopf: Da haben wir’s! Jetzt geht’s los!
    »Das hat doch eine Verrückte geschrieben. Da wäre keine Meldung notwendig gewesen. Was stehst du noch herum? Geh schlafen.«
    Als er zu Kruglow aufschaute, begegnete er einem verständnislosen Blick aus den blauen Augen des Unterleutnants.
    »Nein, Genosse Hauptmann, die war nicht verrückt, die war ganz normal.«
    »Und wo ist sie jetzt, deine Normale?«
    »Was heißt, wo? Ich habe Kusnezow gebeten, sie nach Hause zu fahren. Sie war barfuß, völlig erschöpft und durchgefroren.«
    »Na, hervorragend, Kruglow. Wirst du jetzt alle barfüßigen Assis mit dem Dienstwagen nach Hause kutschieren lassen? Warum hast du sie nicht hierbehalten?«
    »Weshalb hätte ich sie denn festnehmen sollen? Es war keine Obdachlose.
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