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Lena Christ - die Glueckssucherin

Lena Christ - die Glueckssucherin

Titel: Lena Christ - die Glueckssucherin
Autoren: Gunna Wendt
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vorführten.
    Im Rahmen seiner Heimatforschung stieß Hans Obermair nirgendwo auf einen Hinweis zur Existenz der siamesischen Zwillinge in Glonn und vermutet daher in ihnen eine Erfindung der Autorin. Im 19. Jahrhundert war diese Fehlbildung öffentlich bekannt geworden: Von 1811 bis 1874 lebten die aus Siam stammenden Zwillige Chang und Eng Bunker, nach denen der Begriff geprägt wurde. Sie galten damals als Jahrmarktsattraktion, über die man in der Zeitung berichtete. Ob das siamesische Zwillingspaar, das Lena Christ so liebevoll beschreibt, tatsächlich unter den Kostkindern gewesen ist, die im Hansschusterhaus betreut wurden, lässt sich heute nicht mehr ermitteln. Vielleicht hatte sie darüber in der Zeitung gelesen und war von diesem Phänomen so fasziniert, dass sie es in ihre Lebensgeschichte integrierte.
    Lena Christ schildert genau, wie alle zwölf Kostkinder zusammen mit ihr und den Großeltern in einer Kammer schliefen, und zeichnet ein berührendes Bild der Geborgenheit. Das kleinste Kind lag in der Wiege direkt neben dem Bett der Großmutter, die sich ein Band um die Hand gewickelt hatte, das an der Wiege befestigt war. Sobald sie die Unruhe des Kindes spürte, zog sie daran und schaukelte es in den Schlaf. Wenn der Großvater spürte, dass seine Frau sehr müde war, übernahm er diese Aufgabe für sie.
    Wie ihr Mann, so war auch die Großmutter vielfältig begabt. Als Näherin von Miedern war sie weithin berühmt und gefragt. Darüber hinaus verfügte sie über Heilkräfte, welche die übliche Krankenpflege bei Weitem übertrafen: Sie konnte abbeten. Eine dieser spirituellen Aktionen beschreibt Lena Christ so, dass ihr Staunen spürbar wird: Als eins der Kostkinder unter einem Nabelbruch litt, suchte die Großmutter bei zunehmendem Mond drei kleine Kieselsteine, drückte an drei aufeinanderfolgenden Tagen bei Mondaufgang jeweils einen Stein auf den Nabel des Kindes, drehte ihn und sagte, bevor sie ihn mit einer Binde befestigte:
    »Bruch, ich drucke dich zu,
    Geh du mit der Sonne zur Ruh;
    Im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeit,
    Im Namen des Vaters und des Sohnes und
    des Heiligen Geistes. Amen«
    Nach wenigen Tagen war das Kind wieder gesund.

    6 Altar der Wallfahrtskapelle Birkenstein
    Doch die Großmutter verstand sich nicht nur auf die medizinische Praxis, sondern studierte Bücher über Heilkunde. An Wintersonntagen las sie ihrer Enkelin daraus vor und lehrte sie »wundersame Gebete«. Diese Sonntagnachmittage gehörten zu den schönsten Kindheitserinnerungen der Autorin. Die Erzählungen der Großmutter über die Wundertätigkeit Unserer Lieben Frau von Frauenbründl und Birkenstein inspirierten sie viele Jahre später zur Schilderung einer Wallfahrt. Die Statue Unserer Lieben Frau von Birkenstein in der gleichnamigen Kapelle ist Auslöserin für ein Erweckungserlebnis: Der Protagonist des Romans Mathias Bichler weiß plötzlich, dass er Holzschnitzer werden will. Sein größtes Glück wäre es, einmal solche Kunstwerke wie diese Skulptur zu schaffen. Auch der Großmutter hat Lena Christ in diesem Roman ein literarisches Denkmal gesetzt: Sie ist Vorbild für die Figur der heilkundigen Irscherin, die zu Unrecht als »Waldhex« verschrien ist.
    In ihren Erinnerungen bezeichnet es Lena Christ als großes Vergnügen, den Großvater bei der Feldarbeit zu begleiten. Sie fuhren mit dem Wagen, vor den ein Ochse gespannt war, hinaus. Während der Großvater pflügte und säte, versenkte sich Lena in Betrachtungen der nahen und der fernen Welt. Der Großvater lieferte ihr, wenn nötig, Erklärungen. Er zeigte ihr den höchsten Berg der Umgebung, den Wendelstein. Durch bunte Glasscherben, die sie vor dem Haus des Glasers gefunden hatte, sah sie sich die Blumen und Gräser auf der Wiese an und ließ sie wie in einem Kaleidoskop immer neue Farben annehmen. Manchmal war sie sehr still und in sich gekehrt und blieb lange an einer Stelle sitzen. Doch wenn es stürmte, lief sie mit dem Wind um die Wette und versuchte, ihn mit ihrem Geschrei noch zu übertönen. Auf dem Heimweg durfte sie auf dem Ochsen reiten, was ihr gut gefiel.
    »Überhaupt ließ mir der Großvater zu jeder Zeit gern etwas Gutes oder Besonderes zukommen und brachte von jedem Holzkirchner Viehmarkt auch für mich etwas mit: ein lebzeltenes Herz, einen Rosenkranz von süßem Biskuit, ein Schächtelchen von Zwiefizeltl und dergleichen«, schwärmt sie in ihren Erinnerungen . Auf dem Jahrmarkt durfte sie sich bei einem »alten, wunderlichen
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