Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lena Christ - die Glueckssucherin

Lena Christ - die Glueckssucherin

Titel: Lena Christ - die Glueckssucherin
Autoren: Gunna Wendt
Vom Netzwerk:
Leben dominierte, wurden innerhalb der nächsten fünfzehn Jahre sieben weitere eröffnet, darunter auch der Gasthof »Neuwirt«, der dem Hansschusteranwesen gegenüberlag. Das Dorf erlebte einen vielfältigen Aufschwung: 1864 wurde es Postort, ab 1883 kam die Personenbeförderung per Kutsche dazu. Schon als Kind erfuhr Lena Christ also, dass es eine Welt außerhalb der Dorfgrenzen gab. Glonn war keine End-, sondern eine Zwischenstation – davor und dahinter taten sich Möglichkeiten auf. Diese Gewissheit verstärkte sich noch, als 1894 der Anschluss an das Bahnnetz erfolgte, das zuvor nur bis Grafing gereicht hatte. 1901 wurde Glonn zum Markt erhoben.
    Mathias Pichler betrieb nicht nur die zu seinem Haus gehörende Landwirtschaft; vor allem durch seine Arbeit als Maurer sicherte er den Lebensunterhalt für seine Familie. Das war üblich. Mitte des 19. Jahrhunderts gab es in Glonn nur einen einzigen Hof, der allein von der Landwirtschaft existieren konnte. Die anderen Bauern übten zusätzlich ein Handwerk oder ein Gewerbe aus. 1870 starb Mathias Pichlers Frau Anna im Alter von achtundvierzig Jahren, und der Witwer stand mit vier Kindern – ein Sohn war im Alter von vier Jahren gestorben – allein da. Bereits im nächsten Jahr heiratete er die Schwester seiner Frau, Magdalena, die schon seit einiger Zeit auf dem Hof gelebt hatte und als Näherin arbeitete.

    5 Der Großvater Mathias Pichler
    Ein einziges Bild des Großvaters ist erhalten. Treffender als von Günter Goepfert lässt es sich wohl kaum beschreiben: »Betrachtet man sein Bild, das eine glückliche Fügung erhalten hat, könnte man glauben, die Fotografie eines englischen Lords vor sich zu haben.« Es handelt sich um eine Aufnahme, die etwa 1870 auf dem Münchner Oktoberfest entstanden ist. Sie ist die perfekte Illustration zu der ersten Kindheitsimpression, die Lena Christ in den Erinnerungen einer Überflüssigen schildert. Am Anfang ihres autobiografischen Romans erklärt sie, trotz intensiver Versuche, sich ihre frühesten Lebensjahre ins Gedächtnis zu rufen, könne sie sich nur bis zum Alter von fünf Jahren zurückerinnern. In der Szene, die dann vor ihr auftauche, liege sie an Scharlach erkrankt auf dem Kanapee in der warmen Wohnstube, dem einzigen beheizten Raum des Hauses. Es war Sonntagvormittag, und die Großeltern machten sich gerade auf den Weg zur Kirche: »Der Großvater war in seinem geblumten Samtgilet, dem braunen Rock mit den silbernen Knöpfen und dem blauen, faltigen Tuchmantel in die Kirche vorausgegangen, während die Großmutter in dem schönen Kleide, das bald bläulich, bald rötlich schillerte, noch vor mir stand und mich ansah, wobei sie immer wieder das schwarze seidene Kopftuch zurechtrückte.«
    Zwar schloss sich der Großvater nicht von den Gepflogenheiten der Dorfgemeinschaft aus, doch war es unübersehbar, dass er eine Sonderrolle einnahm. Der groß gewachsene bartlose Mann ging stets aufrecht und sprach wenig. Er verbrachte die Abende nicht mit den anderen Männern des Ortes in einem der Wirtshäuser, hielt sich aus der Politik heraus und scheute die Öffentlichkeit. Dabei hatte er ein ausgeprägtes soziales Bewusstsein, das sich vielfach auch praktisch äußerte, doch sein tatkräftiges Engagement blieb meistens verborgen. Er half selbstverständlich, ohne Lob und Lohn zu erwarten. In dieser Haltung wurde er von seiner zweiten Frau ergänzt: Neben ihrer Arbeit in Haus, Hof und Garten zog sie »Kostkinder« auf, die ihr von der Gemeinde anvertraut worden waren. Dabei handelte es sich meistens um uneheliche Kinder aus dem Dorf, deren Mütter nicht für sie sorgen konnten oder wollten. Aber es waren auch der Sohn eines katholischen Priesters – die junge Mutter hatte sich ertränkt – und die Tochter einer reichen unglücklichen Dame aus Rosenheim unter den zwölf Kostkindern, die damals im Hansschusterhaus mit am Tisch saßen. Besondere Aufmerksamkeit schenkt Lena Christ einem siamesischen Zwillingspaar, das ihnen in der Weihnachtszeit vor die Tür gelegt wurde. Dem kleinen Bündel beigefügt waren die Taufpapiere und ein Brief mit der Erklärung, die Mutter der beiden Kinder, eine Seiltänzerin, sei bei der Geburt gestorben. Der Großvater fertigte für die Zwillinge ein eigenes Stühlchen und eine kleine Bank an, die es ihnen ermöglichten, bequem nebeneinander zu sitzen. Sieben Jahre lang blieben sie im Hansschusterhaus, dann wurden sie von der Gemeinde Schaustellern übergeben, die sie auf Jahrmärkten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher