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Lelord, Francois

Lelord, Francois

Titel: Lelord, Francois
Autoren: Hector
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er sich ihr nahe fühlte (was sie sich ja auch wünschte), konnte
sie nicht anders, als ihn zu verabscheuen. Das war schönes Material für die
Sitzung, sofern die Lady nicht mittendrin in die Luft gehen würde.
    »Gerade
eben haben Sie noch anders darüber gedacht«, sagte er. »Sie haben mir gesagt,
dass Sie sich gut fühlen, wenn Sie in meine Sprechstunde kommen. Wie kommt es,
dass Sie Ihre Meinung geändert haben?«
    Als die
Lady entschwunden war, hatte Hector das Bedürfnis, sich ein wenig zu
entspannen, und er ging in die Küche der Praxis, um einen Kaffee zu trinken.
    Keine
Freunde zu haben, war ganz sicher ein Fluch und ein Anzeichen dafür, dass etwas
nicht richtig lief. Deshalb träumten alle Menschen davon, Freunde zu haben -
zunächst einmal, weil sie sich geliebt fühlen wollten, aber auch, um zu
spüren, dass sie normal waren. Schon die Kinder malen sich imaginäre Freunde
aus, um diesen Hunger nach Freundschaft zu stillen, der in jedem von uns
steckt.
    Die Lady
würde auf jeden Fall erst einmal für ein paar Wochen bei ihren Dreharbeiten in
Südostasien sein, wo sie die Rolle einer Missionsschwester spielen sollte, die
im vergangenen Jahrhundert bei einer ethnischen Minderheit in den Bergen
tätig gewesen war. Hector fragte sich, ob der Rollenwechsel, zu dem die Lady
durch ihren Beruf gezwungen wurde, ihre Persönlichkeit letztendlich ganz und
gar durcheinanderbringen würde oder sie im Gegenteil stabilisieren könnte.
    Hector schwor
sich, niemals den Fehler des Psychiaters von Marilyn Monroe zu machen - der
hatte seiner illustren Patientin auch Ratschläge fürs Berufsleben erteilen
wollen. Wenn die Lady doch nur ein paar richtige Freunde hätte, dachte er; es
hätte ihm bei seiner Arbeit mit ihr helfen können.
    Schon seit
geraumer Zeit bat er seine Patienten stets, ihm ihre Freunde zu beschreiben,
und wenn sie kaum welche hatten, machte er sich darauf gefasst, dass seine
Arbeit ganz besonders schwierig werden würde. Für Leute, die gerade mitten im
Leiden steckten, waren Freunde so etwas wie ein Sicherheitsnetz, ein
Rettungskommando, ein Obdach im Orkan, und als Psychiater war man froh zu
wissen, dass sie da waren, wenn der Patient das Sprechzimmer verließ.
    Freundschaften
bedeuten Gesundheit, dachte er bei seinem Kaffee nach dem Abgang der Lady.
Aber, Moment mal, konnte das nicht der Beginn einer kleinen Reflexion über die
Freundschaft sein? Er schlug ein neues Notizbüchlein auf und schrieb auf die
erste Seite:
     
    Beobachtung Nr. 1: Deine Freundschaften sind deine
Gesundheit.
     
    Das
funktionierte in beide Richtungen: Freunde helfen uns, bei guter Gesundheit zu
bleiben - das hatten viele höchst seriöse Studien nachgewiesen -, aber
umgekehrt zeugt die Fähigkeit, Freunde zu gewinnen und zu behalten, auch von
einer guten Gesundheit. (Wenn Hector von Gesundheit spricht, meint er vor allem
die geistige Gesundheit, schließlich ist er ja Psychiater, vergessen wir das
nicht.)
     
    Hector hört zu
     
    Allerdings wohnte der Wunsch, Freunde zu haben, vielleicht
nicht in jedem von uns, dachte Hector, als er Karine zuhörte, der nächsten
Patientin: Sie schien ziemlich froh darüber zu sein, im Leben allein
dazustehen.
    Karine war
eine Forscherin auf dem Gebiet der Mathematik, und sie forschte zu einem
Thema, bei dem Hector nicht einmal verstand, worum es eigentlich ging. Am Ende
hatte er aber so halbwegs mitbekommen, dass es mit Zahlen und mit Gesetzen zu
tun hatte und mit solchen Fragen wie »Kann man jede gerade Zahl, die größer ist
als 2, als Summe zweier Primzahlen
schreiben?«. Karine hatte ihr Mathematikstudium mit den bestmöglichen Noten
abgeschlossen, und danach hatte sie ein paar Forschungsaufenthalte an den
besten Universitäten gemacht. Jetzt hatte sie eine Stelle als Forscherin und
musste hin und wieder zu anderen Forschern sprechen, aber nicht so oft. Ihre
Chefs hatten sie von allen Sitzungen befreit, und Hector konnte gut verstehen,
warum, wenn er Karine zuhörte, wie sie mit monotoner Stimme jeden
Gesprächsgegenstand bis zum letzten Zipfel durchkaute.
    Hector hatte
begriffen, dass Karine ein sehr schlichtes Leben führte, das sich zwischen
ihrer kleinen Wohnung und ihrem Büro an der Universität abspielte. Als er sie
gebeten hatte, über ihre Freunde zu sprechen, hatte er erfahren, dass sie
eigentlich nur eine einzige Freundin besaß - eine Treppenhausnachbarin, die
Ordensschwester war und mit der sie von Zeit zu Zeit eine Tasse Tee trank und
über Aristoteles und den heiligen
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