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Lelord, Francois

Lelord, Francois

Titel: Lelord, Francois
Autoren: Hector
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auszuweichen. (Es fing schon damit an, dass sie Komplexe wegen ihrer Sommersprossen
hatte, obwohl Hector dachte, dass viele Männer die bestimmt reizend fanden.)
    Bei der
Arbeit bekleidete Julie eine Position, für die sie eigentlich zu kompetent war,
denn sie hatte schon mehrere Gelegenheiten verpasst, sich im rechten Moment ins
Spiel zu bringen, und überhaupt hätte es ihr schlaflose Nächte bereitet,
anderen Menschen Anweisungen erteilen zu müssen. Weil sie aber so nett und oft
auch witzig war, weil sie immer ein offenes Ohr hatte und stets bereit war zu
helfen, hatte Julie Freunde und Freundinnen. Aber ganz so einfach war das für
sie nicht.
    »Ich
stelle mir dauernd Fragen«, sagte sie zu Hector. »Was für Fragen?«
    »Das kommt
auf die Freundin an. Bei manchen frage ich mich, ob die Freundschaft für sie
genauso wichtig ist wie für mich.«
    »Wie
kommen Sie darauf?«
    »Wenn zum
Beispiel meistens ich anrufe, um etwas auszumachen, und nicht umgekehrt.«
    »Haben Sie
das überprüft? Und wenn es wirklich stimmen sollte: Könnte das nicht noch
andere Gründe haben?«
    »Einmal«,
fuhr Julie fort, ohne Hectors Einwand zu beachten, »hatte ich den Eindruck,
dass ich einer Freundin ziemlich nahestand, aber dann hat sie sich mit einer
anderen Frau angefreundet, und die mag mich, glaube ich, nicht besonders. Und
seitdem habe ich den Eindruck, dass wir uns nicht mehr so nahestehen.«
    »Und das
macht Ihnen Kummer?«
    »Ja«,
sagte Julie, und Hector sah, wie ihr die Tränen in die dunklen Augen stiegen.
    Warum
wurden manche Menschen mit einem Herzen geboren, das so zerbrechlich war wie
ein Schmetterlingsflügel? Hector spürte, dass er Julie helfen musste, eine
unbewusste Denkweise freizulegen, so etwas in der Art von »Wenn man mich nicht
liebt, dann bin ich nichts wert«, aber wie Sie schon ahnen werden, lassen sich
solche unbewussten, tief sitzenden Gedanken und die Emotionen, die mit ihnen
verbunden sind, nicht einfach mit dem Finger wegschnipsen.
    Andere
Leute, die in Hectors Sprechstunde kamen, hatten keine Freunde, weil sie ganz
einfach unausstehlich waren - eine Persönlichkeitsstörung hatten, wie die
Psychiater das nennen, denn sie wollen sich höflich ausdrücken. Diese Leute
gingen sogar Hector auf die Nerven, der es doch schon mit ganz anderen Kalibern
zu tun gehabt hatte. Das Amüsante daran war (oder das Traurige, wenn Sie so
wollen), dass diese Leute, die ihre Mitmenschen oft ziemlich schlecht behandelten,
trotzdem Freunde haben wollten, und zwar echte Freunde.
    Ein
Gegenpol zu Julie war beispielsweise die Lady. Hector war ihr zum ersten Mal
begegnet, nachdem sie schon etliche seiner Psychiaterkollegen an verschiedenen
Enden der Welt zur Erschöpfung gebracht hatte. Die Lady reiste viel umher, sie
sang in allen großen Hauptstädten der Welt in Fußballstadien voller zu Tränen
gerührter Fans und war auf allen Musiksendern zu sehen - mal im Lederkorsett,
mal im Ballkleid für Debütantinnen. Die Lady war mal blond, mal braun; sie war
Jungfrau gewesen, dann verruchter Vamp, dann von Neuem Jungfrau, die Lady trank
zu viel. Sie hatte Drogen genommen und nahm wahrscheinlich immer noch Drogen
(was sie Hector verschwieg), sie schluckte zu viel Schlafmittel (womit sie vor
Hector angab), sie verließ ihre Liebhaber, wenn sie sie schlugen - und
irgendwann taten sie es alle -, die Lady machte eine Entziehungskur, sie sagte
ihre Konzerte ab, sie ließ ihrem Agenten und dem Chef der Plattenfirma graue Haare
wachsen, heimste aber weiter reichlich Preise und Goldene Schallplatten ein.
Vergangenes Jahr hatte sie ihre erste Filmrolle gehabt, und als Schauspielerin
hatte man sie noch berührender gefunden; in letzter Zeit aber kam sie häufiger
zu Hector in die Sprechstunde, denn die Aussicht auf die in Asien
bevorstehenden Dreharbeiten machte ihr Angst. Der erste Film war für die
Produzenten ein Albtraum gewesen, da es der Lady so unglaublich schwerfiel, zu
einer festen Uhrzeit aufzuwachen. Die Lady war wirklich sehr anstrengend, am
meisten wohl für sich selbst.
    Aber an
jenem Tag in Hectors Sprechzimmer war sie ganz ruhig, mit einem blassen, hinter
einer schwarzen Sonnenbrille verborgenen Gesicht, und ihr zierlicher und
unverwüstlicher Körper war in einen großen Regenmantel gehüllt, den sie nicht
ausgezogen hatte. Durchs Fenster konnte Hector ihren imposanten schwarzen
Schlitten warten sehen: Der Fahrer saß hinterm Lenkrad, und der Leibwächter
rauchte auf dem Gehweg eine Zigarette.
    »Wie geht
es Ihnen?«,
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