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Lelord, Francois

Lelord, Francois

Titel: Lelord, Francois
Autoren: Hector
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Thomas von Aquin sprach, denn das waren
Themen, die Karine über die Mathematik hinaus auch noch interessierten. Hector
erinnerte sich, dass Aristoteles etwas über die Freundschaft geschrieben hatte,
aber die beiden Freundinnen diskutierten nicht nur über diesen
Teil seines Werkes, sondern auch, wie Karine ihm erklärt hatte, über den
Versuch des heiligen Thomas von Aquin, die christliche Doktrin mit der aristotelischen
Philosophie zu versöhnen. Die Ordensschwester stand eher aufseiten des heiligen
Thomas von Aquin, was ja auch nicht weiter erstaunlich war, während Karine
Aristoteles den Rücken stärkte, was zu Gesprächen führte, die äußerst
interessant waren, zumindest für die beiden Frauen. Karine hatte gesagt, dass
sie noch andere Freunde hatte, aber Hector hatte schnell begriffen, dass es
sich nur um Personen handelte, die sie noch nie zu Gesicht bekommen hatte, denn
sie stellten sich im Internet gegenseitig mathematische Rätsel.
    Übrigens
war Karine auch nicht in seine Sprechstunde gekommen, weil es ihr an Freunden
mangelte oder an Liebe, sondern weil sich ein Forscherkollege für sie zu
interessieren begonnen hatte. Er schlug ihr vor, zusammen Kaffee zu trinken
oder ins Kino zu gehen, und das stresste sie beträchtlich.
    »Aber würde
es Ihnen Freude machen, ihn näher kennenzulernen?«, fragte Hector.
    »Ich fühle
mich auch ohne das sehr gut«, antwortete Karine mit ihrer leicht roboterhaften
Stimme.
    Man muss dazu
sagen, dass Karine trotz ihres verunglückten Haarschnitts (den die fromme
Schwester ihr verpasst hatte) und trotz ihrer Jungskleidung einen gewissen
Charme hatte; mit ihrem schönen blauen Blick, der ein wenig leer, aber
schrecklich intelligent war, hätte sie eine ziemlich reizende Androidin abgeben
können. Aber wie auch immer - Karine ging es gut, wenn sie allein war oder wenn
sie über abstrakte Dinge diskutieren konnte.
    Eines
Tages hatte Hector sie gefragt, wie sie sich fühlte, wenn sie gelegentlich doch
zu der einen oder anderen Zusammenkunft gehen musste, zu einem kleinen Empfang
im Institut beispielsweise oder zum Abendessen auf einen Mathematikerkongress.
    »Wie
fühlen Sie sich dann, so inmitten der anderen?«
    Karine
hatte einen Moment überlegt und dann gesagt: »Ich habe eher den Eindruck, dass
die anderen mitten in mir sind.«
    Und Hector
hatte sich gesagt, dass sie beide noch einen weiten Weg würden zurücklegen
müssen, damit Karine besser verstand, was sie auszuprobieren bereit war und was
nicht. Dass Karine in Hectors Sprechstunde gekommen war, statt ihrem Kollegen
einfach die Tür vor der Nase zuzuschlagen (wie sie es sonst zu tun pflegte),
mochte vielleicht schon etwas heißen, aber Hector dachte, dass es auch für
Karines Kollegen ein weiter Weg sein würde und dass er nicht unbedingt zu dem
Ziel führen musste, das er sich erhoffte.
    Dann
empfing Hector in seiner Sprechstunde mit Roger noch einen Patienten, der nicht
eben viele Freunde hatte. Aber in gewisser Weise brauchte Roger die auch nicht
wirklich, denn er hatte eine direkte Leitung zum lieben Gott, und welch
besseren Freund hätte man sich schon wünschen können? Roger hatte gute Gründe
für seine Annahme, zwischen Gott und ihm gebe es ein besonderes Verhältnis: Er
hörte, wie Gott zu ihm sprach, und also antwortete er ihm auch, und Gott wiederum
hatte darauf immer etwas extrem Intelligentes zu entgegnen, und das war ja
wohl ein guter Beweis dafür, dass es sich tatsächlich um Gott handelte.
    Roger kam
schon seit Jahren zu ihm, und Hector freute sich jedes Mal, ihn zu sehen: Er
mochte Rogers Holzfällerstatur, seine buschigen Augenbrauen, die stets ein
wenig gerunzelte Stirn und seine Art, die Augen zuzukneifen, wenn er über Gott
sprach. Rogers Hauptproblem war, dass er mit den anderen Leuten ein bisschen
zu viel über Gott sprach und vor allem, dass er schnell ärgerlich wurde, wenn
sie nicht an seine persönliche Beziehung zu unserem Herrn glaubten  - oder
schlimmer noch, wenn sie ihm sagten, dass es Gott sowieso nicht gebe, oder wenn
sie sich über Roger lustig zu machen begannen. Das kam zwangsläufig schlecht
bei ihm an, und schon mehrmals hatten sich alle Beteiligten hinterher im
Krankenhaus wiedergefunden. Wer Roger widersprochen hatte, landete im normalen
Krankenhaus und Roger selbst in der Psychiatrie, wo man ihm solche Massen an
Medikamenten verabreichte, dass es ihm immer weniger gelang, Gottes Wort zu
vernehmen, noch nicht einmal dann, wenn er seine Ohren ganz doll spitzte, und
dabei
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