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Leitfaden China

Leitfaden China

Titel: Leitfaden China
Autoren: Hans Jakob Roth
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auch sachliches Verständnis. Andererseits liegt aber ein Entscheid nur richtig, wenn die Einordnung auch auf einem grösseren Hintergrund gelingt und er sich auch in diesem Rahmen als richtig erweist. Ohne einen grösseren Bezugsrahmen verliert sich eine Person im Nebel und beginnt im Kreis herumzugehen, ohne dass sie dies merkt. Der Überblick kann nur mit der Distanz zur Sache gewonnen werden.
    Der Vorteil der Nähe ist ein wesentlich umfassenderes Verständnis einer Situation, das auf einer viel breiteren Informationsaufnahme beruht. Bei grosser Nähe treffen die Informationen über alle Sinne bei der Person ein. Die damit verbundenen kurzen Wahrnehmungshorizonte erlauben aber keine Unterscheidung mehr von wichtig und unwichtig, von Ursache und Wirkung. Sie fliessen in der ganzen Breite ungefiltert dem menschlichen Hirn zu, welches sie verarbeiten muss. Informationen aus der Nähe werden deshalb mit wesentlich stärkerem intuitivem Verarbeiten bewältigt, da analytisches Vorgehen unter diesen Umständen nicht mehr greift. Diese Art der Informationsaufnahme führt zu einer sehr umfassenden, aber wenig präzisen Einschätzung einer momentanen Wirklichkeit. Wenig präzis heisst, dass sie wesentlich subjektiver und emotionaler ist und sprachlich viel schwieriger fassbar wird als ein aus einer beschränkten Informationslage abgeleitetes Bild. Die neuronale Verarbeitung dieser Eindrücke erfolgt anders als Informationen, die nur von Auge und Gehör stammen. Der bekannte Schweizer Neurobiologe Christof Koch (siehe NZZ vom 14.10.2004, S. 47) meint dazu, dass subjektive Empfindungen verschiedenster Art – er nennt Geruch, Schmerz, Sehen, Wut etc. – gleichen neuronalen Kreisläufen im Gehirn entsprechen könnten.
    Informationen aus entfernteren Quellen hingegen sind einem Auswahlprozess unterworfen, der mehr vom Willen der Person abhängt. Dort nimmt man wahr, was man will, was interessiert. Dem engen Informationsumfeld hingegen kann man nicht entgehen, ohne sich zu entfernen. Einer Dame, die eine markante Parfumwolke um sich verbreitet, kann man nur entfliehen, wenn man sich von ihr wegbewegt. Im Gegensatz dazu werden bei grösserer Distanz wesentlich bewusster nur jene Informationen verfolgt, die persönlich interessieren. Anderes lässt man weg.
    Erst mit Distanz wird auch ein viel stärker logisch-rationales und analytisches Verarbeiten der Situationen möglich. Die Informationsauswahl bietet beispielsweise die Möglichkeit, einen Planungsprozess an die Hand zu nehmen. Wenn der neue Geschäftssitz in Shanghai in einem Jahr eröffnet werden soll, wird man sich allein auf Informationen beschränken, welche mit dem Projekt etwas zu tun haben. Dieser (westliche) Planungsprozess erlaubt dann in der Tat, die Risiken des Projektes weitgehendst zu beschränken. Sind sie noch nicht klar, wird auch nicht entschieden. Damit ist diese Art von Informationsaufnahme mit einer wesentlich grösseren Objektivität, aber auch mit einer viel stärkeren statischen Haltung verbunden. Wenn sich das Morgen nicht einwandfrei aus dem Heute ableiten lässt, wird nicht entschieden. Es zeigt sich hier, dass mit dieser Art des Planens im Vergleich zu Ostasien auch eine beträchtliche Risikoabneigung verbunden ist. Management in Ostasien ist subjektiver, empathischer und risikofreudiger als Management in Europa. Nur Amerika vermag hier mit Asien etwas besser mitzuhalten, allerdings nur was die Risikoseite angeht. Die empathische Komponente ist in dieser angelsächsischen Individualgesellschaft noch weniger entwickelt.
    Strategisches Denken verlangt deshalb notwendigerweise Distanz. Erst diese ermöglicht Abstraktion und Analyse, da eine Ausscheidung von wichtigen und unwichtigen Informationen getroffen werden kann. Gleichzeitig ist es nur mit der notwendigen Distanz möglich, Ursache und Wirkungsbeziehungen zu durchschauen. Diese Reduktion ermöglicht mit ihrer Beschränkung der Informationsaufnahme den Schritt hin zur Abstraktion, welche letztlich nichts anderes ist als eine Beschränkung «auf das Wesentliche».
    Nähe und Distanz basieren deshalb auf anderen Wahrnehmungshorizonten. Diese sind nicht nur räumlich zu verstehen, sondern umfassen auch einen zeitlich anderen Rahmen. Während Nähe sich im Extremfall auf das Hier und Heute beschränkt, erlaubt Distanz das Erfassen von räumlich und zeitlich grösseren Horizonten. Damit wird allerdings offensichtlich, dass die fast gegensätzlichen Sichten der Wirklichkeit, die sich aus Nähe und
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