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Leitfaden China

Leitfaden China

Titel: Leitfaden China
Autoren: Hans Jakob Roth
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Objektivität erhalten zu können. Die Schere zwischen Nähe und Distanz ist deshalb in der chinesischen Gesellschaft wesentlich weiter offen, als dies in einer westlichen Gesellschaft der Fall wäre.
    Ein Gleichgewicht von Nähe und Distanz ist wohl in jeder menschlichen Beziehung notwendig. Norbert Elias hat eines seiner Werke mit dem Titel «Engagement und Distanzierung» (1987) betitelt. Ich möchte versuchen, diese Fragestellung nochmals zusammenfassend darzustellen. Das Phänomen von Nähe und Distanz hat umfassende Auswirkungen. Es bestimmt in zentraler Weise den Wahrnehmungshorizont selbst, mit dem wir arbeiten und hat damit einen entscheidenden Einfluss auf die Ausformung unserer Denkmuster.
    Nähe und Distanz als Wahrnehmungshorizonte in einer globalen Welt
    Es ist die Distanz zur Gruppe, die Ablösung der Person aus ihrer sozialen Umgebung, welche die Überlegenheit der westlichen Gesellschaft in den letzten drei Jahrhunderten mit sich gebracht hat. Bis weit ins 17. Jahrhundert hinein blieb China die technische Führungsmacht (siehe z. B. Needham 1984, Temple 1989). Die Nähe zur Natur, die Nähe zur Umgebung hatte die Erfindungen ermöglicht, für welche China berühmt ist, den Kompass, das Schiesspulver, die Buchdruckerei, um nur wenige zu nennen. Alle diese Entdeckungen gingen auf die Nähe zur Sache zurück, begleitet von Pröbeln und zufälligem Entdecken. Doch für eine moderne Wissenschaftsentwicklung war Distanz nötig, denn nur diese schafft den zur Analyse und Abstraktion notwendigen Abstand. Newton hätte sein Gesetz nie entdecken können, wenn er an seinem Experiment Teilnehmer anstatt Beobachter gewesen wäre. In diesem entscheidenden Sinn hat die Ablösung des Renaissancemenschen aus seiner Gruppe den wissenschaftlichen, technischen und künstlerischen Durchbruch der Gesellschaft gebracht, für den die heutige westliche Welt dasteht. Die Sicht der Wirklichkeit hatte sich für den Renaissancemenschen verändert. Er hatte Distanz zu seiner Umgebung gewonnen und hatte gleichzeitig einen eigenen Standpunkt gefunden.
    Diese Entwicklung geht meines Erachtens auf Veränderungen in der europäischen Sozialstruktur zurück, die mit der Renaissance in Norditalien zwar nicht begannen, aber ihre entscheidende Dynamik entfalteten. Jacob Burckhardt beschreibt dies in einem Schlüsselsatz seines wichtigen Werkes über die Kultur der Renaissance folgendermassen: «…es erwacht eine objektive Betrachtung und Behandlung des Staates und der sämtlichen Dinge dieser Welt überhaupt; daneben aber erhebt sich mit voller Macht das Subjektive, der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches.» (J. Burckhardt 1929, S. 111).
    Der ostasiatische Mensch macht seine «Ich» Erfahrung oft erst beim Erlernen einer europäischen Sprache. Diese herausgehobene Stellung des Individuums hat sich in der ostasiatischen Massengesellschaft, sei dies in China, Korea oder Japan, nie entwickeln können. Die Person bleibt bis heute in ihre Gruppe eingebunden. Die Abhebung des Individuums von seiner Gruppe, seine eigentliche Befreiung, ist der Schlüssel für die europäische Freiheit und Kreativität. Mit dieser Befreiung, die in altgriechischer Zeit angelegt war, wurde die Beobachterposition des westlichen Menschen möglich, auf der die Subjekt-Objekttrennung letztlich beruht. Asiatische Dichten haben diesen Abstand zum Objekt nie geschaffen, der asiatische Mensch bleibt Teilnehmer am Geschehen um ihn. Das Eingebundensein in seine Gruppe hat ihm nie die Unabhängigkeit erlaubt, die für eine Entwicklung der grundlegenden Kreativität notwendig ist.
    In der westlichen Individualgesellschaft wurde somit das Ich und die Anderen wichtig, in der asiatischen Kollektivgesellschaft sind es die eigene Gruppe und die Anderen, wobei diese Gruppe in China die Blutsfamilie bildete, während sie in Japan und Korea auf die Dorfgemeinschaft und damit eine umfassendere Wirtschaftseinheit zurückging, welche zum Überleben wichtig war. Diese grundsätzlich andere Sicht der Wirklichkeit und des damit verbundenen Denkens lässt sich mit den beiden Autoren Thukydides und Sunzi bereits vor 2500 Jahren in ihren Texten fast symptomatisch nachweisen. Dem modernen analytischen Denkenvon Thukydides, das er in der Analyse seines Werkes über den Peloponnesischen Krieg entwickelt (Thukydides 1973), steht das ausgezeichnete taktische Denken von Sunzi gegenüber, dessen Werk über die 36 Strategeme bis heute in die Managementwissenschaften
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