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Leichenschänder

Titel: Leichenschänder
Autoren: Jürgen Benvenuti
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Plakate von Wallfahrtsorten.
    Ich zog ein paar der Bücher aus dem Regal und blätterte sie durch. Die meisten davon befassten sich mit Chirurgie. Aus einem der Bücher fiel ein Foto und segelte zu Boden. Ich hob es auf und betrachtete es. Es zeigte eine Gruppe Mittzwanziger in weißen Kitteln. Vermutlich Medizinstudenten, denn wenn ich die geöffnete Leiche im Hintergrund richtig deutete, war das Foto in der Prosektur aufgenommen worden.
    Einer der Studenten war mein kleiner Irrer Mikanuda. Auf dem Bild schaute er zwar ein paar Jährchen jünger aus als bei unserer Begegnung, aber er hatte schon damals eine ausgeprägt fliehende Stirn gehabt. Mir fiel auf, dass er ganz am Rand der Gruppe stand.
    Dann stieß ich zu meiner Verblüffung auf ein weiteres bekanntes Gesicht. Agnes Steinkopf, die herzkranke Tochter des konservativen Politikers. Ich kannte ihr ätherisches Antlitz aus der Zeitung. Wie klein doch die Welt war.
    Ich drehte das Foto um. Auf die Rückseite war eine Zahl gekritzelt worden. Eine Telefonnummer? Das konnte ich später überprüfen.
    Ich steckte das Foto in meine Manteltasche und ging in die Küche. Hier sah es aus wie in einer Sammelstelle für Altglas. Überall standen und lagen Whiskey-, Tequila- und Wodkaflaschen herum, manche zum Teil gefüllt, die meisten leer.
    Ich zog ein paar Schubladen auf. Fand Mahnungen von Inkassobüros und den Brief eines Casinos, in dem stand, dass Bodo Mikanuda bis auf weiteres für den Spielbetrieb gesperrt war. Dann entdeckte ich einen Stapel Ablehnungsschreiben. So wie es ausschaute, wollte ihm keine Firma einen Job geben. Zwischen den Zeilen konnte ich herauslesen, dass die Tatsache, dass die Ärztekammer ihm die Berufsberechtigung entzogen hatte, daran eine gewisse Mitschuld trug.
    Bodo Mikanuda war ganz offensichtlich ein verzweifelter Mann. Genauer gesagt ein verzweifelter Ex-Chirurg, der die herzkranke Tochter eines Politikers kannte. Würde er in seiner Verzweiflung auch einen Mord begehen?
    „Hallo, Herr Reporter!“, tönte Ernas Stimme durchs Treppenhaus in die offene Wohnung hinein. „Der Mikanuda kommt grad heim!“
    Verdammt, sie sollte doch
mich
warnen und nicht diesen Irren! Ich rannte aus der Wohnung und sprintete die Treppe hinunter. Auf dem ersten Absatz begegnete mir Erna, die aufgeregt mit den Händen herumfuchtelte und mir keuchend erzählte, dass der Mikanuda sich umgedreht habe und weggerannt sei.
    Ich ließ die verdutzte Erna stehen und jagte hinter Mikanuda her. Als ich draußen im Hof war, sah ich ihn, wie er gerade durch eines der Tore auf die Straße hinauslief.
    „Bleib stehen!“, rief ich ihm nach.
    Natürlich blieb Mikanuda nicht stehen. Er war zwar irre, aber nicht dämlich. Er rannte weiter und drehte kurz den Kopf, um nach mir Ausschau zu halten. Dabei übersah er die Straßenbahn der Linie D, die gerade vorbeifuhr. Der Triebwagen rammte seinen Schädel und schleuderte Mikanuda mehrere Meter zur Seite. Blut, Gehirnmasse, Knochensplitter und Haare verteilten sich auf der Straße. Die Tram bremste mit einem trommelfellzerfetzenden Quietschen und verfehlte Mikanudas kopflose Leiche nur um wenige Zentimeter.
    Ehe die Straßenbahn noch richtig zum Stillstand gekommen war, drängten die Fahrgäste bereits hysterisch nach draußen. Der Fahrer stolperte auf die Straße, ging in die Knie und übergab sich. Autofahrer bremsten und gafften neugierig durch die Scheiben und ein paar Jugendliche in bunter, übergroßer Kleidung diskutierten lautstark, ob hier ein Film gedreht wurde oder alles bloß schnöde Realität war.
    Ich hörte einen kurzen, erstickten Schrei hinter mir. Als ich mich umdrehte, sah ich Erna bewusstlos auf dem Gehsteig liegen. Ich überlegte kurz, ob ich ihr helfen oder lieber ein paar Bilder schießen sollte. Schließlich gewann das Boulevardmonster in mir die Oberhand.
    Ich drängte mich zwischen den Schaulustigen hindurch bis zu Mikanudas Leiche und knipste, was das Zeug hielt. Als ich die Kamera wieder einsteckte, meinte ein Passant, ich solle mich schämen, und wünschte mich zum Teufel.
    Ich winkte ein Taxi heran und sagte: „Zu dem bin ich gerade unterwegs.“
     ♦ ♦ ♦
    „Wo stecken Sie eigentlich die ganze Zeit, Breitmaier?“, sagte Huber, kaum dass ich sein Büro betreten hatte. „Man bekommt Sie kaum noch zu Gesicht.“
    „Wie gesagt, ich recherchiere für eine Geschichte.“
    „Verschonen Sie mich mit Ihren Märchen, Breitmaier. Gerade wurde ein Mann von einer Straßenbahn überfahren, draußen
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