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Lehrerzimmer

Lehrerzimmer

Titel: Lehrerzimmer
Autoren: Markus Orths
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neuer Schwächeanfall, die Knie drohten mir wegzusacken, ich wankte zurück ins Lehrerzimmer und ließ mich aufs Sofa fallen, ich schloss die Augen und dachte, ich habe die Schlüssel, es kann nichts mehr schief gehen, ich muss sie nicht heute abgeben, ich kann es morgen tun, mit frischer Kraft will ich Höllinger gegenübertreten, morgen, dachte ich, morgen werde ich es tun, morgen wird er mich von der Liste streichen. Neben mir saß Kniemann und sagte, das sei typisch, noch nie sei sie geprüft worden, immer dürften die anderen ran, vor ihr und ihrem Wissen scheine man Angst zu haben, selbst die Weißen. Ich reichte ihr den Zettel mit meinen Fragen, und für die nächsten fünfzehn Minuten redete Kniemann leise flüsternd auf mich ein, und ich tat so, als hörte ich ihr zu.

20
    W ieder zu Hause, galt mein erster Blick dem Anrufbeantworter. Ich hatte drei Nachrichten. Die Erste von meiner Mutter. Wie es mir ginge, was die Schule mache, ob ich einen guten Start erwischt hätte, wie die Kollegen seien, wie der Direktor … Ich drückte auf Löschen. Die zweite Nachricht war vom Direktor. Ihm sei zu Ohren gekommen, dass ich am heutigen Tag zwei Schlüssel an mich genommen, aber nicht ihm, Höllinger, abgeliefert hätte. Dies sei ein Vertrauensbruch ihm gegenüber und eine Missachtung meiner Pflichten als GSB . Das hätte ein Nachspiel. Morgen in der großen Pause bei ihm. Die dritte Nachricht kam von Frau Safft. Sie habe die Videokassette in der Hand, sie könne die Nummer deutlich lesen. Sie wisse zwar nicht, warum um alles in der Welt ich mich derart für diese Nummer interessiere, aber da ich am Telefon den Anschein erweckt hätte, dieser Sachverhalt sei mir nicht unwichtig, wolle sie mir mitteilen, es handle sich um die Nummer … Da war das Band meines Anrufbeantworters zu Ende gelaufen. Ich setzte mich auf den Teppich neben das Telefon und zog eine Zigarette aus der Schachtel. Ich sah auf meinem Handrücken nach, wählte, es meldete sich der Anrufbeantworter. Ich wandte mich an Herrn und Frau Safft, sie möchten doch so freundlich sein, mir noch einmal die Nummer durchzugeben.
    Den Rest des Tages verbrachte ich mit Vorbereitungen, hatte aber die ganze Zeit das Gefühl, nicht bei der Sache zu sein. Um Mitternacht war ich fertig, aß und saß dann teilnahmslos im Sessel. Ich hatte den Koffer auf den Schoß genommen und hielt mich an ihm fest. Ich meditierte. Ich wählte eine Meditationsform, die ich im Referendariat während der Notenkonferenzen für die fünfte und sechste Klasse beim Verlesen der sogenannten Kopfnoten kennen gelernt hatte. Verordnungsgemäß war man dazu verpflichtet, während der Konferenzen jede einzelne Kopfnote jedes einzelnen Schülers vorzulesen, ich summte nun innerlich diese beruhigende Melodie und sah dabei das müde Nicken der um den Konferenztisch sitzenden Lehrer förmlich vor mir, auf deren Häuptern eine eigentümliche Stille und Andacht lag, als es hieß, Caroline hat ihre Aufgaben stets zur vollsten Zufriedenheit ihrer Lehrer erfüllt, sie beteiligte sich rege am Unterricht, war immer aufmerksam, verrichtete ihre Pflichten sorgfältig und pünktlich, konnte den Stoff in seiner gesamten Fülle gut nachvollziehen und ist in der Klasse beliebt, Frank hat seine Aufgaben nicht immer zur vollsten Zufriedenheit seiner Lehrer erfüllt, er beteiligte sich gelegentlich am Unterricht, war nicht immer aufmerksam, verrichtete seine Pflichten meist sorgfältig und pünktlich, konnte den Stoff in seiner gesamten Fülle fast immer nachvollziehen und ist in der Klasse geduldet, Pia hat ihre Aufgaben nicht zur Zufriedenheit ihrer Lehrer erfüllt, sie beteiligte sich nie am Unterricht, war häufig unaufmerksam, verrichtete ihre Pflichten weder sorgfältig noch pünktlich, konnte den Stoff in seiner gesamten Fülle überhaupt nicht nachvollziehen und ist in der Klasse überaus beliebt, eine Realschulempfehlung wird ausgesprochen. Das Telefon. Ich riss die Augen auf. Ich saß in meinem Schaukelstuhl. Draußen war es hell. Acht Uhr morgens. Die Anstrengungen der letzten Tage hatten mich übermannt. Was für ein Tag war heute? Freitag? Ich war wie gelähmt und konnte meine Hand nicht ausstrecken, um nach dem Telefon zu greifen, sodass ich meiner eigenen Ansage zuhörte, um anschließend Frau Saffts Stimme zu vernehmen, gestern sei es so spät geworden, da habe sie nicht mehr stören wollen, also hier die Nummer: 5387. Viel Glück. Dann lauschte ich auf das Schlusspiepsen des Anrufbeantworters und
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