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Lehrerzimmer

Lehrerzimmer

Titel: Lehrerzimmer
Autoren: Markus Orths
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Kollegium gerichtete Bitte , mit welcher Höllinger seinen ihm zustehenden Platz vorschriftenverachtenderweise verlassen und sich für einen kurzen Augenblick auf das Niveau der ihm unterstellten Lehrer begeben habe. Erschwerend hinzu käme ein ungenehmigtes, irreguläres und in keiner Dienstvorschrift weder erwähntes noch vorgesehenes Losverfahren, ein Tatbestand, der indirekt auch einer Irreführung des gesamten Oberschulamtsapparates gleichkomme sowie einer Inkaufnahme von möglichen Fehlentscheidungen seitens der internen obersten Entscheidungsträger. Höllinger sah den Weißen geschlagen an. Das Urteil, fuhr der Weiße fort, sei ein Abzug von drei Leistungsstufen. Seinen Posten als Direktor am ERG werde Höllinger aber weiterhin bekleiden können, da es sich bei dem vorliegenden Verschulden um eine Ersttat handle und man aus der Personalakte eine bis dato tadellose Führung des Direktors entnehmen könne. Nein, rief plötzlich Kniemann, nein, rief sie laut und eifrig, das könne sie nicht dulden, das sei unerhört, das sei ein Abgesang auf die humanistische Bildung, man könne nicht einfach bis daaato sagen, mit langem a, das sei nicht korrekt, das lasse sie nicht durchgehen, dare sei das einzige Verb der a-Konjugation, das ein kurzes a im Stamm habe, demnach dürfe man nicht etwa dahto  – also quasi mit gedachtem eingeschobenem h – sagen, sondern es heiße vielmehr datto , gleichsammit Doppel-T, dare, do, dedi, dattum , sagte Kniemann, da müsse man schon drauf achten. Höllinger zuckte zusammen und fauchte Kniemann lautlos, aber gestenreich an, wandte sich dann wieder an den Weißen, der durch den unerwarteten Einwurf etwas verwirrt zu sein schien, und Höllinger flüsterte mehrmals, ich danke Ihnen, ehe er sich bemühte, wieder Haltung anzunehmen. Dann öffnete sich die Bibliothekstür, ein Weißer trat aus der Bibliothek und brachte seinem Chef einen Zettel. Der Maulwurf, sagte der Wortführer, nachdem er den Zettel überflogen hatte, sei soeben ermittelt worden. Er blickte undurchsichtig ins Kollegium. Sein Name sei Jensen, Vorname Josef. Die Fingerabdrücke seien identisch, es bestehe nicht der geringste Zweifel. Ein Bleiben am ERG sei ausgeschlossen, Urteil: Zurückstufung auf Assessorengehalt, Versetzung nach Schwäbisch-Sibirien. Jensen griff mechanisch in seine Hosentasche, knüpfte den Schulschlüssel vom Schlüsselbund und legte ihn auf den Tisch. Zwei Weiße sammelten Jensens sämtliche Schulunterlagen ein, während zwei weitere Josef rechts und links am Arm fassten und ihn aus dem Lehrerzimmer führten. Das war das Letzte, was ich von Josef Jensen sah.

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    D er Auftrag sei noch nicht erledigt, fuhr der Weiße fort. Da man nun schon einmal hier sei, wolle man die Situation beim Schopf packen und auch einige der übrigen Lehrer des scheinbar aufmüpfigen Kollegiums bei der Ausübung ihrer Pflichten zur Kontrolle bitten. Dreizehn Lehrer, sagte der Weiße, seien nach dem Zufallsprinzip zur überprüfenden Stundenüberwachung ausgewählt worden. Er begann nun eine Liste von Namen vorzulesen. Alphabetisch. Jeder, dessen Name nicht genannt wurde, atmete auf und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Ammel, Bruns, Kramny, Kranich … Mehr hörte ich nicht. Von diesem Augenblick an erlebte ich alles nur noch in Trance, sah einen der Weißen, der durch eine unheimlich schimmernde Schicht Nebel wie in Zeitlupe auf mich zuzuschweben schien, ich konnte ihm nicht in die Augen sehen, da er eine verspiegelte Brille trug. Der Weiße nahm mich am Arm, fasste meine Schultasche und führte mich aus dem Lehrerzimmer, er fragte nichts, er schien über alles Bescheid zu wissen, er führte mich wie einen Blinden durchs Schulgebäude genau in den Raum, in dem die 10d auf mich wartete. Mir schwindelte, ich konnte mich kaum aufrecht halten, als sich der Weiße in die letzte Reihe setzte, einen Beurteilungsprotokollbogen auf die Schreibunterlage spannte und mit gezücktem Stift wartete. Ich brachte nur ein heiseres Krächzen heraus. Guten Tag, begrüßte ich die Schüler auf Deutsch, da mir das englische Wort auf die Schnelle nicht einfiel. Die Schüler aber versuchten mir zu helfen und kritzelten auf leere Blätter Sätze und Stichworte, an denen entlang ich mich einigermaßen durch die ersten fünfzehn Minuten hangeln konnte. Danach hatte ich mich ein wenig gefangen, mein Atem ging ruhiger, ich konnte wieder etwas durch den dichten Nebel, der aus meinen Augen quoll, wahrnehmen. Ich konnte die einzelnen Gesichter der
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