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Lehrerzimmer

Lehrerzimmer

Titel: Lehrerzimmer
Autoren: Markus Orths
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nein, ich hatte mich zu dieser sinnlosen Kommunikation hinreißen lassen und wertvolle Zeit verloren. Doch ich wusste nun, was zu tun war. Ich dachte, ich darf mich nicht überraschen lassen, ich muss ruhiger werden, konzentrierter. Ich schnitt mir eine neue, längere Schnur zurecht, die mir beim Abnehmen nicht so viel Mühe bereitete. Ich meditierte fortan einige Stunden am Tag, um den Anruf in der gebührenden Ruhe entgegennehmen zu können. Ich hielt, sooft es möglich war, das Telefon bereits in der rechten Hand, um beim Läuten keine unnützen Sekunden verstreichen zu lassen. Ich schrieb einen großen Zettel und legte ihn auf den Wohnzimmertisch. Keine Anrufe beantworten , stand da, außer dem einen . Und der erreichte mich am 20. August um siebzehn Uhr vierundzwanzig. Ich saß vorm Fernseher und blieb ruhig. In einer stundenlang eingeübten Prozedur nahm ich den Hörer vom Hals, meldete mich, und als ich das Wort Oberschulamt vernahm, rutschte ich von der Couch und fiel auf die Knie.

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    I ch durchquerte die Unterführung, sah weiß geschrubbte Kacheln, Wassertropfen, ein alter Mann spielte Akkordeon und sang etwas von Heimatland, ich blieb kurz stehen und warf ihm ein Geldstück in die Tirolermütze. Dann stieg ich zur Brücke hoch, überquerte den kleinen Fluss namens Fils, ging die Johnstraße entlang, Automotoren, Dreck, Luft, kaum zu atmen. Beim Restaurant Frühlingstau baute ein Kellner Sonnenschirme auf. Ich bog ab, nach rechts: die Schule. Ich betrat das Sekretariat und sagte, ich wolle zum Direktor. Ich hätte, fügte ich hinzu, einen Termin, um elf Uhr. Der Direktor, so die Antwort, sei in einer Besprechung. Ich wartete und besah mir die Sekretariatstheke und die Fotos, die an der Wand hingen: Lehrer mit Leinen um den Hälsen, im Vordergrund zwei Männer, einer dick, einer groß, sie hielten die Leinen in den Händen, auf dem Kopf eine Kappe mit den Buchstaben OSA . Wenig später wurde ich ins Zimmer des Direktors gerufen. Der Direktor wies auf einen Stuhl ihm gegenüber. Ich setzte mich. Er sei, sagte der Direktor, der Mann, der meine Beurteilung schreiben werde. Welche Beurteilung? fragte ich höflich. Er sagte, die Beurteilung am Ende des Jahres, am Ende eines jeden Jahres, er, der Direktor, schreibe sie, er, persönlich. Die Beurteilung, sagte er, entscheide über Wohl und Wehe meiner Laufbahn. Es sei, fügte er hinzu, ein Unding, dass ich nicht wisse, was es mit der Beurteilung auf sich habe, die Beurteilung, sagte er, sei das Wichtigste für die Lehrer, nur um die Beurteilung gehe es ihnen, nichts sonst habe irgendeine Bedeutung für sie. Über all meine Schritte werde er sich auf dem Laufenden halten, fügte er hinzu, nichts, sagte er, werde ihm verborgen bleiben, alles werde am Ende des Schuljahrs offen vor ihm liegen, und gerade von Neuankömmlingen mache er sich pflichtgemäß ein besonders detailliertes Bild. Ich nickte ihm zu und rührte mich nicht. Warum, fragte der Direktor nun, während er mich musterte, warum ich nicht in Göppingen wohnte? Ich sagte, ich hätte bislang noch keine Gelegenheit gefunden, keine Gelegenheit , unterbrach mich der Direktor, was das heißen solle, keine Gelegenheit, das sei nicht zu akzeptieren, ich sei doch bereits seit zwei Wochen davon unterrichtet, dass ich hierher, nach Göppingen, ans ERG kommen werde, keine Gelegenheit, sagte er, das sei alles andere als ein guter Start. Wann, fragte er, ich denn gedächte umzuziehen? So bald als möglich, sagte ich und beeilte mich hinzuzufügen, ich sähe vollkommen ein, dass die Entfernung zwischen Dienst- und Wohnort nicht die günstigste sei, allerdings , unterbrach mich der Direktor, das sei eine unverrückbare Tatsache, er lasse da nicht mit sich reden, wer hier arbeite, müsse auch hier wohnen, all seine Lehrer wohnten in Göppingen, er persönlich habe dafür gesorgt, dass all seine Lehrer in Göppingen wohnten, und auch ich käme nicht darum herum, in Göppingen zu wohnen, wenn ich hier, unter ihm, arbeiten wolle, Göppingen, sagte er, sei doch eine schöne Stadt. Ja, sagte ich, selbstverständlich würde ich mich bemühen, schnellstmöglich eine Wohnung zu finden, um die Scharte, welche ich mir mit dem fehlenden Göppinger Aufenthaltsplatz eingehandelt hätte, auszumerzen, dazu , sagte der Direktor, sei es freilich jetzt zu spät, er habe es quasi schon in die Beurteilung geschrieben, im Geiste sähe er die Beurteilung bereits vor sich, ich, Studienassessor Kranich, hätte es versäumt, zu Dienstantritt
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