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Lehrerzimmer

Lehrerzimmer

Titel: Lehrerzimmer
Autoren: Markus Orths
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eine geeignete Wohnung am Dienstort vorzuweisen, mehr noch, Studienassessor Kranich sei sich bei Dienstantritt nicht der Tragweite der Beurteilung seitens des Direktors bewusst gewesen. Ich versuchte ihm, während er redete, einen demütigen Blick zuzuwerfen, aber es gelang mir nicht, zu sehr bewegte der Direktor seinen Kopf während der Ansprache hin und her, und jetzt schwieg er und überflog das Bewerbungsblatt. Ich hätte, sagte er, gar keine Klasse angegeben. Was für eine Klasse? fragte ich. Eine Klasse, für die ich als Klassenlehrer verantwortlich zeichnen wolle. Ich, sagte ich, hätte gedacht, dass ich als Neuankömmling vielleicht zunächst, das wäre ja noch schöner , unterbrach er mich, gerade als junger Lehrer sei es schlichtweg meine Pflicht, eine Klasse zu übernehmen, das fange ja gut an, gleich zu Beginn wolle ich mich den schwierigen Aufgaben entziehen, keine Klasse, sagte er und schrieb etwas auf seinen Block, dabei brach ihm der Bleistift ab, er griff nach einem Spitzer, spitzte den Bleistift, nahm den Block, auf dem die abgespitzten Bleistiftwinden lagen, führte ihn zum Mülleimer, schob die Bleistiftwinden hinab, pustete dann die Reste des Bleis vom Block, legte den Block neben sich, sah noch einmal auf das Blatt, las, was er geschrieben hatte, riss das Blatt dann ab und legte es in eine der Ablageschalen zu seiner Linken, ehe er sich mir wieder zuwandte. Er wolle nun ganz offen zu mir sprechen, sagte er. Nach allem, was schon vorgefallen sei, rate er mir aufzuhören. Noch ehe ich angefangen hätte. Noch ehe ich auf den Lehrerzug aufgesprungen sei, solle ich kehrtmachen, weggehen, mich anderweitig betätigen, alles, nur nicht Lehrer. Er habe sich gestern ein Kontrollvideo von Schulstunden angesehen, die ich im Referendariat gehalten hätte, grauenhaft, sagte er, grauenvoll, ganz und gar unbrauchbar, in jeder Hinsicht als Lehrer eine Niete, die Fragetechnik, sagte er, unglaublich, Fragetechnik nicht vorhanden, die ganze Schulstunde ohne erkennbare Fragetechnik, die Fragetechnik, sagte er, sei das wesentliche Merkmal, das einen guten Lehrer auszeichne, die Fragetechnik sei alles. Es gehe ja schließlich darum, die Schüler dorthin zu führen, wo man sie haben wolle, sie mit den Fragen so in die Enge zu treiben, dass schließlich nur noch die einzig richtige Antwort übrig bleibe, die Lösung . Nur dann könne man den Schüler, der als Erster in die Falle getappt sei, belohnen. Ob ich noch nie den Gesprächen der Schüler nach einer Prüfungsarbeit gelauscht hätte? Alles drehe sich in solchen Gesprächen darum, herauszubekommen, was der Lehrer habe hören wollen , alles drehe sich um die sogenannte Lösungserwartung . Nein, Lehrer sei gewiss nicht der Beruf, der für mich als erstrebenswert zu bezeichnen sei, fuhr der Direktor fort, meine Fragen seien viel zu offen gewesen, in jeder Hinsicht, dieses Schweigen, fast eine Minute lang, Frage gestellt, eine Minute geschwiegen, ineffizient, bringe nichts, das sehe man doch, das müsse man doch merken. Die Schüler wollten klare Fragen, wollten Brücken, Hilfen, sie wollten ja all das aus dem Schädel des Lehrers kratzen, was dieser in den Vorbereitungsstunden hineingekippt habe, sie wollten den Lehrerschädel quasi auslöffeln und das Vorbereitete, Gewisse, Sichere von der Tafel ablesen, um es aufsaugend abzuschreiben und in ihren Heften mit nach Hause zu nehmen. Er hustete eine Weile, beruhigte sich, und während er schwieg, beeilte ich mich, ihm zu versichern, dass ich selbstverständlich bereit sei, eine Klasse als Klassenlehrer zu übernehmen, ich hätte lediglich übersehen, an der betreffenden Stelle ein Kreuz zu machen, und ich bat ihn, mir noch eine Chance zu geben. Er wischte meine Worte mit einer Handbewegung weg und sagte, sicher, sicher, ich bekäme meine Chance, wenn ich darauf bestünde, er habe nur offen zu mir sprechen wollen. Der Direktor vermerkte, nachdem er sich geschnäuzt hatte, zwei Kreuze auf dem Personalbogen, zwei Klassen, sagte er, er werde mir gleich zwei Klassen geben, damit ich von Anfang an wisse, woher der Wind wehe, und ich sagte, selbstverständlich, zwei Klassen.

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    E r wolle mich nun, fuhr der Direktor fort, so, wie bei jedem Einstellungsgespräch, in die Geheimnisse des Schullebens einweihen, ohne eine Sache zu beschönigen, schonungslos sozusagen wolle er mir mitteilen, was mich erwarte. Man könne, sagte er, vier Säulen unterscheiden, auf welche das gesamte Schulsystem sich stütze: Die Säulen nenne er
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