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Lehrerzimmer

Lehrerzimmer

Titel: Lehrerzimmer
Autoren: Markus Orths
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Direktor nun, während er auf die Uhr sah und sich erhob, ob ich in den endlosen Chor des Lehrerjammers einstimmen wolle. Er habe nun keine Zeit mehr, mich über die vierte Säule der Schule aufzuklären, den Schein, die Tatsache also, dass ein jeder, der hier lebe und arbeite, so tue, als ob, auch er tue nun gerade so, als ob er keine Zeit mehr hätte, in Wahrheit habe er alle Zeit der Welt, auch er sage nun, er warte noch auf einen Anruf, in Wahrheit wolle er nur noch ein Stündchen in seinem Sessel dösen, alle, sagte er, täten hier so, als ob, täten so, als seien sie gute Lehrer, als seien sie interessierte Schüler. Doch wenn alle immer so täten, als ob, bestehe eigentlich kein Unterschied mehr zwischen dem Als-ob und der Wirklichkeit, aber dies sei ein heikles philosophisches Thema, das er ein andermal mit mir erörtern wolle, und wenn ich weiter keine Fragen hätte, solle ich nun so tun, als hätte ich ihn verstanden und pünktlich zum Arbeitsbeginn am 15. September zur feierlichen Verbeamtung erscheinen, hier, bei ihm, im Büro, mit den übrigen vier Kandidaten. Dann gab er mir die Hand, setzte sich und schenkte mir keine Beachtung mehr. Ich ging an den Sekretärinnen vorbei, die mir freundlich zunickten, ein wenig mitleidig fast, schien mir, denn die Tür war die ganze Zeit offen gestanden und sie hatten alles mit anhören müssen. Ich trat auf den Flur und nahm zum ersten Mal diesen Geruch wahr, ein Gemisch aus Holz und Linoleum, kaltem Beton, Wandfarbe, Pflanzenausdünstungen, ein klein wenig Schweiß. Ich ging langsam den Gang entlang, die Treppe hinab, am Getränkeautomaten vorbei, die Glastür hinaus, dort die Raucherecke, dicht bei den silbergrauen Müllcontainern. Vorm Restaurant Frühlingstau standen Tische und Sonnenschirme, unter denen sich der Staub und Dreck der Straße stauten. Der Kellner, weiß geschürzt, ergraut, ein Stoppelbart, schiefe Zähne, hoch aufgeschossen, stellte einen Lammbraten auf den Tisch, an dem ich gerade vorbeiging und sagte zu den Gästen: Das Schweigen der Lämmer.

3
    I ch war lange vor Beginn der ersten Gesamtlehrerkonferenz, der sogenannten Schuljahreseröffnungskonferenz, in Göppingen, ich hatte einen frühen Zug genommen und stand rauchend im Bahnhofsbereich. Ich hatte den Kragen meiner Jacke hochgeschlagen und sah mich ab und zu um. In der Unterführung traf ich wieder auf den Akkordeonspieler. Ich wunderte mich, dass er schon so früh unterwegs war, und da ich noch ein wenig Zeit hatte, sprach ich ihn an. Er hatte schlechte Zähne und konnte nicht deutlich reden, außerdem war mein Kopf so voll von all den Dingen, die in den nächsten Stunden auf mich warteten, dass ich ihm nicht mit der nötigen Konzentration folgen konnte. Ich dachte an die erste Schulstunde heute in der 11b. Die letzten zwei Wochen hatte ich voll und ganz genutzt und mir die Raabits-Ordner und alle für die elfte Klasse gängigen Englischbücher und CD s sowohl des Klett- als auch des Hueber- und Cornelsenverlags kommen lassen, hatte aus den Materialien einen detaillierten Stoffverteilungsplan erstellt und die komplette erste Einheit von dreizehn Schulstunden plus Puffer samt Klausur und Lösungserwartung in meinem Ordner zu Hause sauber abgeheftet. Das beruhigte mich, das gab mir ein wenig von der Sicherheit, die ich brauchte, um den ersten Schultag zu überstehen. Und für die allererste Schulstunde, die wichtigste Stunde im Laufe des Schuljahres überhaupt, die Stunde, die, wie man mir gesagt hatte, sich in die Köpfe der Schüler einbrennen und darüber entscheiden würde, in welche Kategorie Lehrer sie mich auch in Zukunft einordneten, für diese Stunde also hatte ich ein ganzes Wochenende geschuftet, hatte vier Methodenwechsel eingebaut und eigens einen Einstieg neu kreiert, der sich mit jedem Prüfungslehrprobeneinstieg hätte messen können. Ich warf nun dem Mann am Akkordeon etwas Geld in die Mütze und ging los. Ich hatte die Nacht kaum schlafen können und sah reichlich mitgenommen aus, als ich mich im Glas der Eingangstür spiegelte. Da tauchte aus dem Tiefgaragenausgang ein älterer Mann mit Schultasche auf, sein Gesicht hing ein wenig herab, er nickte mir kurz zu, war schon an mir vorbeigegangen, drehte sich dann aber um und fragte mich träge: Erster Schultag? Ich nickte. Wir traten gemeinsam durch die Tür. Nebeneinander stiegen wir die Treppe hoch. Krämer, sagte er, Oberstudienrat. Kranich, sagte ich, Studienassessor. Noch sieben Wochen, sagte er. Ich sah ihn fragend an,
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