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Lehrerzimmer

Lehrerzimmer

Titel: Lehrerzimmer
Autoren: Markus Orths
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bücken konnte, den Koffer nahm und mich ohne mich umzudrehen entfernen wollte. He, rief mir jemand nach, und ich erstarrte. Wollen Sie Ihren Kaffee nicht zahlen?

17
    I n der Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich hatte den Koffer lange untersucht und mich vergeblich bemüht, ihn mit einer Nagelfeile und einem Schraubenzieher zu öffnen. Um dreiundzwanzig Uhr fünfundvierzig lief im Fernsehen der Film Das Apartment mit Jack Lemmon. Als der kleine Büroangestellte CC Baxter alias Jack Lemmon kurz vor Schluss seinem Chef JD Sheldrake, gespielt von Fred MacMurray, den Schlüssel zu seinem, Baxters, über Jahre hinweg als Absteige missbrauchten Apartment mit den Worten schon gar nicht mit Miss Kubelik verweigerte und Sheldrake stattdessen in einem Akt der grenzenlosen Verachtung den Schlüssel des Waschraums der Abteilungsleiter auf den Schreibtisch warf, was die prompte Kündigung und den Abstieg ins Nichts zur Folge hatte, stieg ein dicker Kloß meinen Hals hoch, und als dann in der Schlussszene die wunderbare Miss Kubelik, gespielt von Shirley MacLaine, um Mitternacht, während des Singens von Auld Lang Syne , ihren Geliebten Sheldrake verließ und durch die kalte Silvesternacht ins Apartment zu Baxter lief, als Miss Kubelik im Treppenhaus einen Knall aus Baxters Wohnung hörte und dachte, Baxter hätte sich erschossen, als sie wie wild an der Tür trommelte und Baxter völlig verwundert mit einer soeben geöffneten Sektflasche die Tür aufmachte, als Miss Kubelik Baxters Apartment betrat, ihren Mantel auszog und sich neben Baxter aufs Sofa setzte, als sie das Kartenspiel nahm und mischte, als Baxter die wunderbaren Worte sprach Ich liebe Sie, Miss Kubelik , als Miss Kubelik ihn daraufhin nicht etwa ansah oder seine Liebeserklärung erwiderte, sondern stattdessen den in die Filmgeschichte eingegangenen Schlusssatz sagte Halt den Mund und gib , da konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich malte mir aus, wie ich Höllinger meinen Schlüssel auf den Schreibtisch werfen würde, wusste aber, dass ich es niemals fertig brächte, auf alles zu verzichten und einfach so zu gehen, ohne zu wissen, wohin.
    Am nächsten Morgen nahm ich eigens einen frühen Zug, um dem Mann in der Unterführung zuzuhören. Er spielte immer dasselbe Lied, und ich blickte ihn unverhohlen an. Sah so meine Zukunft aus? dachte ich. Entweder in der Unterführung enden oder aber unter Führung Höllingers und der Weißen weitermachen? Ich riss mich vom Mann am Akkordeon los. Nein, dachte ich, ich werde weitermachen, ich werde alles geben. Heute noch, dachte ich, heute noch werde ich Höllinger zwei Schlüssel erbeuten, dann wird er mich von der Liste streichen, und alles wird gut. Wild entschlossen stapfte ich zum Schulgebäude. Zeitgleich trat Herr Krämer aus der Tiefgarage, ich sagte, sechs Wochen, ein Tag, er griff sich an den Hut, nickte und fragte mich, ob ich schon wisse, dass Gräulich ein Toupet trage.
    Da ich früh dran war, ging ich sofort in den Medienkeller, den man auch mit dem Schlüssel C6 öffnen konnte. Ich machte Licht, suchte den Videoschrank, er war offen, ich fuhr mit dem Finger die Reihen der Videobänder entlang, konnte aber den gesuchten Film nicht finden. Plötzlich vernahm ich hinter mir ein Geräusch und schnellte herum. Ich hielt den Atem an. Ich schlich an den Schränken mit den altrömischen Statuenimitationen vorbei, umkurvte den Parcours der Projektoren und Kartenständer, es war niemand zu sehen. Da hörte ich noch einmal ein leichtes Schuffeln. Das kam von unten. Ich bückte mich. Unter dem weißen Tisch an der Wand, da war etwas. Ich hörte ein Husten. Ich sah genauer hin. Ein blauer Knäuel aus Stoff, ein Schlafsack, aus dem, langsam, vorsichtig, tastend, noch ganz verschlafen, mich überhaupt nicht wahrnehmend, das Gesicht von Heiner Stramm erschien, dem Medienwart. Mein Gott, rief ich, was machen Sie denn da? Stramm kroch aus seinem Versteck. Er habe hier übernachtet, sagte er, Stramm, Bio, Chemie, Medienwart. Ich: Kranich, Englisch, Deutsch. Da er auf dem Boden hocken blieb, kniete ich mich zu ihm. Warum er hier übernachtet habe? fragte ich ihn. Er … er … und dann brach es plötzlich aus ihm heraus … er wisse nicht mehr weiter, sagte er und legte seinen Kopf in beide Hände, er könne nicht mehr, er halte das nicht mehr aus, das sei unmenschlich, das sei eine Tortur, er habe keine Erklärung dafür, er könne sich nicht vorstellen, wie es dazu gekommen sei, er wisse nicht, wie es weitergehen
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