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Lehrerzimmer

Lehrerzimmer

Titel: Lehrerzimmer
Autoren: Markus Orths
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solle. Ruhig, ruhig, sagte ich und setzte mich auf den Boden. Es gibt für alles eine Lösung, Sie können sich vertrauensvoll an mich wenden. Aus den Augenwinkeln hatte ich wahrgenommen, dass seine Hose über einer Stuhllehne hing, und – ohne dass er irgendwo befestigt war – ganz allein, blank und bloß, mitten auf dem blauen Stuhlüberzug, lag Stramms Schlüssel, in Reichweite, ich brauchte nur meine Hand auszustrecken. Seine Frau habe ihn verlassen, sagte Stramm. Besser gesagt, sie habe ihn rausgeschmissen. Seit drei Tagen übernachte er hier. Immer wieder habe er sie bekniet und gebeten, ihn doch ins Haus zu lassen, aber sie sei unnachgiebig geblieben, er habe nichts machen können. Ob sie sich gestritten hätten? fragte ich. Nein, sagte Stramm, das sei es ja, es gebe keinen Grund für ihr Handeln, er habe sich ihr gegenüber immer korrekt verhalten, jeden Wunsch habe er ihr erfüllt, alles habe er für sie getan, er könne sich keine Vorwürfe machen. Herr Stramm, sagte ich und rückte ein wenig näher, Sie können ganz offen sein, meistens ist das ja eine, na ja, wie soll ich sagen, eine sexuelle Geschichte, Sie verstehen, was ich meine? Ja, ja, sagte Stramm, aber auch da sei alles im Lot gewesen, er habe kaum eine Nacht verstreichen lassen, ohne sich diesbezüglich um seine Frau zu kümmern. Im Gegenteil, wenn er bedenke, wie viel Aufwand und Vorbereitung er gerade in die Nächte gesteckt habe. Nichts habe er in dieser Hinsicht dem Zufall überlassen, gewissenhaft sei er zu ihr ins Schlafzimmer gegangen, in jeden der von ihnen vollzogenen Akte habe er drei, wenn nicht gar vier Methodenwechsel eingebaut. Er habe meist als Einstieg ein Lied verwendet und sich zu seiner Frau gesetzt, dann aber, ehe es hätte langweilig werden können, den Rekorder ausgestellt, um im fragend-entwickelnden Gespräch ihrer Lust auf den Grund zu gehen. Er habe anschließend oft einen klassischen Übungsteil eingebaut, noch ehe aber die Übungsphase sich zu lang hätte hinziehen können, habe er seiner Frau aus einem entsprechenden Buch verschiedene Passagen vorgelesen, um die schon im Entstehen begriffene Stimmung zu verstärken. Nie habe er in jenen Stunden auch die Stillarbeitsphase vergessen, während der er seine mit sich selbst beschäftigte Frau beobachtet habe. Jeden ihrer Stöhnlaute, jedes ihrer Koseworte habe er ergebnissichernd an der statt des Spiegels überm Bett hängenden Tafel festgehalten, und später, als seine Frau mit den Tafelanschrieben immer größere Schwierigkeiten bekommen habe, sei er sogar dazu übergegangen, Folien an die Wand des Schlafzimmers zu projizieren, Folien mit für den Sexualakt geeigneten Stellungen, und außerdem habe er peinlichst genau darauf geachtet, die Konzentration seiner Frau nie länger als 45 Minuten in Anspruch zu nehmen. In diesem Augenblick klingelte es, und ich stand vom Boden auf, gab Stramm die Hand, zog ihn hoch, sagte, kommen Sie, ziehen Sie sich an, wir sind spät dran, sagen Sie, haben Sie das Video The Grapes of Wrath irgendwo gesehen? Ja, sagte Stramm, Herr Safft hat es ausgeliehen, gestern, er hat gesagt, er braucht es irgendwann nächste Woche für seinen Grundkurs. Als ich die Tür zum Medienkeller schloss, hörte ich Stramms Stimme: Mein Schlüssel, wo ist mein Schlüssel? Aber ich stieg schon, ohne ihn zu beachten, die Treppen hoch.

18
    I ch ging schnurstracks zu Safft und fragte ihn nach dem Film. Der sei bei ihm zu Hause, sagte er. Warum? rief ich. Er wolle ihn kopieren, sagte Safft. Ich bräuchte den Film, sagte ich, sofort . Langsam, langsam, sagte Safft, so wichtig könne es ja nicht sein. Wann er eine Freistunde habe? fragte ich Safft. Gar nicht, sagte er, volles Deputat plus vier Überstunden. Ob er verheiratet sei? fragte ich ihn. Safft nickte. Er solle mir seine Nummer geben, sagte ich. Die stehe im Adressverzeichnis der Lehrer, sagte Safft, drehte sich um und verließ das Lehrerzimmer, da es bereits zum zweiten Mal klingelte.
    Ich brachte die erste Schulstunde hinter mich. Beim Verlassen des Klassenzimmers traf ich auf Kniemann, die sich mit ihrer Rechten an meine Schulter klammerte und mir ins Ohr raunte, sie brauche Stoff, neuen Stoff, ob ich was für sie hätte, ich riss mich los, warf ihr die Worte Troja, Hannibal, Hastings hin und ließ sie, sich selbst belehrend, im Treppenhaus stehen. Als ich an der Fensterwand im Erdgeschoss vorbeiging, konnte ich sehen, wie eine grüne Mercedes-Limousine auf dem für Autos verbotenen Schulhof parkte, Frau
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