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Legend - Fallender Himmel

Titel: Legend - Fallender Himmel
Autoren: Marie Lu
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lesen, zu erraten, was ihr Plan sein könnte. »Haben Sie einen letzten Wunsch? Falls Sie noch einmal Ihren Bruder sehen oder ein letztes Gebet sprechen möchten, dann lassen Sie es uns jetzt wissen. Dies ist das letzte Privileg, von dem Sie Gebrauch machen dürfen, bevor Sie sterben.«
    Natürlich. Der letzte Wunsch. Ich starre sie an und versuche, mein Gesicht so ausdruckslos wie möglich zu halten. Was will sie wohl jetzt von mir hören? Junes Blick ist eindringlich, bohrend.
    »Ich -«, beginne ich. Alle Augen sind auf mich gerichtet.
    Ich sehe, wie sich Junes Mund kaum merklich bewegt. John, formen ihre Lippen.
    Ich sehe Commander Jameson an. »Ich möchte meinen Bruder John sehen«, sage ich. »Ein letztes Mal. Bitte.«
    Der Commander schenkt mir ein ungeduldiges Nicken und schnippt mit den Fingern, dann murmelt sie dem Soldaten, der eilig neben sie tritt, etwas zu. Er salutiert und verschwindet. Sie wendet sich wieder mir zu. »Bewilligt.« Mein Herz schlägt schneller.
    June wechselt einen kurzen Blick mit mir, doch bevor ich mich auf sie konzentrieren kann, dreht sie sich weg, um Commander Jameson etwas zu fragen.
    »Es ist alles vorbereitet, Iparis«, antwortet der Commander. »Und jetzt hören Sie auf, mir auf die Nerven zu gehen.«
    Wir warten schweigend ein paar Minuten, bis ich wieder Schritte auf dem Gang höre. Diesmal mischt sich ein schleifendes Geräusch unter die zackigen Schritte der Soldaten. Das muss John sein. Ich schlucke krampfhaft. June sieht mich nicht noch einmal an.
    Dann ist John in der Zelle, flankiert von zwei Soldaten. Er wirkt dünner und blasser. Seine langen, hellblonden Haare hängen ihm in schmutzigen Strähnen ins Gesicht und er scheint noch nicht mal zu merken, dass ihm ein paar davon kreuz und quer im Gesicht kleben. Meine Haare müssen genauso aussehen. Bei meinem Anblick lächelt er, auch wenn nicht viel Erfreuliches zu sehen sein kann. Ich versuche zurückzulächeln.
    »Hey«, sage ich.
    »Hey«, entgegnet er.
    June verschränkt die Arme. »Fünf Minuten. Sagen Sie, was Sie sagen wollen, und fertig.« Ich nicke schweigend.
    Commander Jameson blickt June an, macht jedoch keine Anstalten, den Raum zu verlassen. »Achten Sie darauf, dass es genau fünf Minuten sind und keine Sekunde mehr.« Dann drückt sie sich die Hand aufs Ohr und beginnt, weitere Befehle zu bellen. Ihr Blick ist fest auf mich gerichtet.
    Ein paar Sekunden lang starren John und ich uns bloß an. Ich versuche, etwas zu sagen, aber irgendetwas scheint in meiner Kehle zu stecken und die Worte kommen nicht raus. John sollte nicht hier sein. Vielleicht ich, aber nicht John. Ich bin ein Gesetzloser. Ein Verbrecher, ein Aufständischer. Ich habe wieder und wieder das Gesetz gebrochen, aber John hat nichts falsch gemacht. Er hat problemlos seinen Großen Test bestanden. Er ist warmherzig, verantwortungsvoll. Kein bisschen so wie ich.
    »Weißt du, wo Eden ist?«, bricht John schließlich das Schweigen. »Ist er am Leben?«
    Ich schüttele den Kopf. »Ich weiß es nicht, aber ich glaube schon.«
    »Wenn du da draußen bist«, fährt John mit heiserer Stimme fort, »geh mit erhobenem Haupt, okay? Lass dich nicht von ihnen fertigmachen.«
    »Werde ich nicht.«
    »Mach’s ihnen richtig schwer. Schlag irgendwen nieder, wenn es sein muss.« John schenkt mir ein kleines, trauriges Lächeln. »Du kannst einem manchmal ziemlich Angst machen. Also mach ihnen Angst. Okay? Bis ganz zum Schluss.«
    Zum ersten Mal seit langer Zeit fühle ich mich wieder wie ein kleiner Bruder. Ich muss hart schlucken, um die Tränen zurückzuhalten. »Okay«, flüstere ich.
    Unsere Zeit ist viel zu schnell um. Wir verabschieden uns voneinander und Johns Bewacher ergreifen seine Arme und führen ihn wieder aus meiner Zelle, zurück in seine eigene.
    Commander Jameson scheint sich ein bisschen zu entspannen, offenbar erleichtert, dass meine Bitte nun erfüllt ist. Sie gibt den übrigen Soldaten einen Wink. »Formieren Sie sich«, befiehlt sie. »Iparis, Sie begleiten die Wachen bis zur Zelle des Jungen. Ich bin gleich wieder zurück.« June salutiert und folgt John aus der Zelle, während ein paar Soldaten zu mir treten und mir die Hände auf dem Rücken fesseln. Commander Jameson verschwindet aus der Tür.
    Ich hole tief Luft. Jetzt kann mir nur noch ein Wunder helfen.
    Ein paar Minuten später führen sie mich nach draußen. Ich tue, was John gesagt hat, gehe erhobenen Hauptes und bemühe mich um einen ausdruckslosen Blick. Jetzt kann ich die
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