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Die Leidenschaft des Cervantes

Die Leidenschaft des Cervantes

Titel: Die Leidenschaft des Cervantes
Autoren: Jaime Manrique
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KAPITEL 1
    DER FLÜCHTIGE
    1569
    Im Schutz des mondlosen Himmels ritt ich auf einem wenig ausgetretenen Pfad durch die Mancha, nur die Sterne wiesen mir den Weg. Während ich über die dunkle Hochebene galoppierte, tobte Angst in meiner Brust wie ein Segel, das im Sturm knattert. Ich gab meinem Pferd die Sporen und peitschte ihm die Flanken; es schnaubte, das Hämmern seiner Hufe auf dem steinigen Grund zerriss die Stille der manchegischen Landschaft und hallte quälend durch meinen Kopf. Mit »ale! ale!« -Rufen drängte ich meinen Hengst zu noch schnellerem Galopp in der Hoffnung, dem Büttel und seinen Männern zu entkommen.
    Am Abend zuvor hatte ich in der Taverne El Andaluz Karten gespielt. Antonio de Sigura, ein Ingenieur, der nach Madrid gekommen war, um für den Hof Straßen zu bauen, hatte in kurzer Zeit sehr viel Geld verloren. Ich spürte, dass ich zu viel Wein und zu wenig Essen im Magen hatte, und wollte das Spiel beenden, solange ich noch einen Gewinn einstreichen konnte. Der Ingenieur beharrte, ich müsse weiterspielen. Als ich mich weigerte, sagte er: »Wie kommt es, Miguel Cervantes, dass mich das nicht überrascht? Von denen, die aus ehrlosem Haus kommen, erwarte ich kein ehrenhaftes Benehmen.«
    Die Umsitzenden lachten hämisch. Ich stand auf, warf meinen Stuhl um, trat gegen ein Tischbein und verlangte eine Erklärung.
    »Ich meine damit, dass dein Vater ein stinkender Jude ist, der im Kerker saß, und deine Schwester eine Hure!«, brüllte de Sigura.
    Ich packte die nächstbeste Karaffe, zerschmetterte sie an de Siguras Kopf und stieß den Tisch um. Sobald ich sah, dass Wein und Blut über das Gesicht des Ingenieurs rannen, war mir, als müsste ich jeden Moment meine Gedärme in die Hosenbeine entleeren. Zitternd stand ich vor ihm und wartete, was er als nächstes tun würde. Er wischte sich mit einem Taschentuch über das Gesicht und zog seine Pistole. Als Gemeiner durfte ich kein Schwert tragen. Blitzschnell zog mein Freund Luis Lara das seine und reichte es mir. In dem Moment, in dem de Sigura auf mich zielte, stürzte ich mich auf ihn und bohrte ihm die Spitze von Luis’ Schwert in die rechte Schulter. Er fiel auf die Knie, die Schwertspitze ragte hinten aus seinem Schulterblatt, grellrot tropfte es davon herunter. De Sigura öffnete den Mund, seine Lippen formten ein großes O. Als er vornüber sackte, zog ich das Schwert heraus und warf es zu Boden. Die Gewalt hatte sich so schnell abgespielt, dass ich wie benommen war. Dann hörte ich Tumult um mich herum, viele Gäste liefen zur Taverne hinaus und schrien: »Lauft, lauft, ehe der Büttel kommt!«
    In dem Durcheinander verließ ich die Schenke, der Wein rauschte mir im Kopf, ich rannte durch die dunklen Straßen Madrids, als hetzte eine Meute hungriger Bestien mir nach. Und mir wurde klar, dass ich mit meiner unbesonnenen Tat mein Leben für immer verändert hatte: Mein Traum, Hofdichter zu werden, war zu einer Schimäre geworden.
    Am folgenden Tag erreichte mich im Haus des Freundes, bei dem ich Zuflucht gesucht hatte, die Nachricht, welche Strafe über mich verhängt worden war: Ich sollte meine rechte Hand verlieren und für zehn Jahre aus dem Königreich verbannt werden. Beides war für mich nicht hinnehmbar. Doch wenn ich in Madrid blieb, wäre es nur eine Frage der Zeit, bis ich verraten, festgenommen und für immer verstümmelt würde. Ich ließ meinem besten Freund Luis Lara zukommen, in welcher Notlage ich mich befand, und bat ihn um ein Darlehen, das mir die Flucht aus Spanien ermöglichte. Noch am selben Nachmittag brachte sein Leibdiener mir einen prall gefüllten Lederbeutel. »Mein Herr sagt, das sei ein Geschenk, Don Miguel«, erklärte er, während ich sechzig Gold- escudos zählte. »Er sagt, Ihr sollt Spanien verlassen und Euch lange Zeit nicht mehr hier sehen lassen.«
    Später am Abend schlüpfte ich also auf Umwegen aus der Stadt hinaus. Auch wenn ich Madrid in Schimpf und Schande verlassen musste, die schlimmste Strafe war, dass ich meine geliebte Mercedes lange Jahre nicht mehr wiedersehen würde. Ich glaubte nicht, dass ich diese grausame Trennung von meiner ersten Liebe jemals überwinden würde. Nie wieder würde die Liebe so rein, so idealistisch sein, davon war ich überzeugt, und ich würde den Verlust von Mercedes den Rest meiner Tage betrauern. So weit ich auch von zu Hause fort sein, so lang ich auch leben mochte, nie würde ich eine zweite Frau finden, die wie Mercedes Schönheit, Bescheidenheit und
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