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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen
Autoren: Gabriel García Márquez
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ärmlicher und vom Sturmwind des Schicksals gestreift: die gleichen verfallenen Häuser, die rostdurchlöcherten Zinkdächer, die kleine Promenade mit den bröckelnden Granitbänken und die traurigen Mandelbäume, alles entrückt durch diesen unsichtbaren, glutheißen Staub, der die Augen täuschte und die Haut sengte. Das Privatparadies der Bananengesellschaft jenseits der Bahngleise war, nun ohne Elektrozaun, ein weites, zugewuchertes Areal ohne Palmen, mit zerstörten Häusern zwischen blühendem Mohn und dem Schutt des niedergebrannten Hospitals. Keine Tür, kein Mauerriss, keine menschliche Spur, die nicht einen übernatürlichen Widerhall in mir ausgelöst hätte.
    Meine Mutter ging sehr aufrecht mit schnellem Schritt, schwitzte kaum in ihrem Trauerkleid und schwieg, aber ihre tödliche Blässe und ihr scharfes Profil verrieten, was in ihr vorging. Am Ende der Promenade sahen wir das erste menschliche Wesen: Eine kleine, verarmt aussehende Frau tauchte an der Ecke Jacobo Beracaza auf und ging mit einem Zinntöpfchen an uns vorbei, dessen falsch aufgelegter Deckel zu ihren Schritten den Takt schlug. Meine Mutter flüsterte mir, ohne sie anzusehen, zu:
    »Das ist Vita.«
    Ich hatte sie erkannt. Sie hatte von Kindesbeinen an in der Küche meiner Großeltern gearbeitet, und so sehr wir uns auch verändert haben mochten, sie hätte uns erkannt, wenn sie uns eines Blickes gewürdigt hätte. Aber nein: Sie ging in einer anderen Welt vorbei. Noch heute frage ich mich, ob Vita nicht lange vor jenem Tag gestorben war.
    Als wir um die Ecke bogen, brannten meine Füße vom Staub, der durch das Geflecht der Sandalen drang. Ich konnte das Gefühl der Verlassenheit kaum noch ertragen. Mich selbst und meine Mutter sah ich auf einmal so, wie ich als Kind die Mutter und die Schwester des Diebes gesehen hatte, den Maria Consuegra eine Woche zuvor mit einem Schuss getötet hatte, als er versuchte, die Tür ihres Hauses aufzubrechen.
    Um drei Uhr morgens hatte sie ein Geräusch geweckt, jemand versuchte von außen die Eingangstür aufzustemmen. Sie stand auf, ohne Licht zu machen, tastete im Kleiderschrank nach einem archaischen Revolver, den seit dem Krieg der Tausend Tage keiner mehr abgefeuert hatte, ortete im Dunkeln nicht nur die Tür, sondern auch die genaue Höhe des Schlosses. Dann nahm sie den Revolver mit beiden Händen, zielte, schloss die Augen und drückte ab. Sie hatte noch nie geschossen, doch die Kugel traf durch die Tür ihr Ziel.
    Es war der erste Tote, den ich sah. Als ich um sieben Uhr morgens auf dem Schulweg vorbeikam, lag der Körper noch in einer getrockneten Blutlache ausgestreckt auf dem Gehsteig, das Gesicht von der Bleikugel zerstört, die seine Nase zerfetzt hatte und aus einem Ohr wieder ausgetreten war. Er trug ein bunt gestreiftes Matrosenhemd und eine einfache Hose, statt Gürtel eine Schnur, und er war barfuß. Neben ihm auf dem Boden fand man den zünftigen Dietrich, mit dem er das Schloss hatte öffnen wollen.
    Die Notabeln des Städtchens eilten in Maria Consuegras Haus, um ihr Beileid auszusprechen, weil sie den Dieb getötet hatte. Ich bin am Abend mit Papalelo hingegangen, und da saß sie in einem Manilasessel, der aussah wie ein riesiger Pfau aus Strohgeflecht, und war umgeben von der Inbrunst ihrer Freunde, die sich die tausendmal wiederholte Geschichte anhörten. Alle waren mit ihr der Meinung, dass sie aus bloßer Angst abgedrückt hatte. Da fragte mein Großvater, ob sie denn nach dem Schuss noch etwas gehört habe, und sie antwortete, dass da zunächst eine große Stille gewesen sei, dann das metallische Geräusch des Dietrichs, der auf den Zementboden fiel, und gleich darauf eine kleine, schmerzvolle Stimme: »Ach, Mutter!« Offensichtlich war Maria Consuegra diese erschütternde Klage nicht ins Bewusstsein gedrungen, bis mein Großvater ihr die Frage stellte. Erst jetzt begann sie zu weinen.
    Das war an einem Montag geschehen. Am Dienstag der folgenden Woche zur Siestazeit spielte ich gerade mit meinem allerersten Freund Luis Carmelo Correa Kreisel, als wir davon überrascht wurden, dass die Schläfer vorzeitig erwacht waren und aus den Fenstern schauten. Da sahen wir auf der leeren Straße eine Frau in strenger Trauerkleidung und ein etwa zwölfjähriges Mädchen mit einem Strauß welker Blumen, der in eine Zeitung gewickelt war. Vor der sengenden Sonne schützten die beiden sich mit einem schwarzen Regenschirm und schienen völlig unberührt von den aufdringlichen Blicken der Leute,
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