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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Exilierten des spanischen Bürgerkriegs erwachsen wurde.
    Die letzten Spuren der Angst, die mir jener vergessene Paria als Kind einjagte, verflüchtigten sich, während meine Mutter und ich, neben seinem Bett sitzend, die Einzelheiten der Tragödie hörten, von der die Ortschaft heimgesucht worden war. Er hatte eine solche Gabe, die Dinge zu vergegenwärtigen, dass alles, was er erzählte, in dem von der Hitze durchdrungenen Raum sichtbar zu werden schien. Der Ursprung allen Unglücks war natürlich das Massaker an den Arbeitern durch die Staatsgewalt gewesen, wenngleich Zweifel über die historische Wahrheit blieben: drei Tote oder dreitausend? Vielleicht seien es nicht so viele gewesen, sagte der Doktor, aber jeder habe die Zahl dem eigenen Schmerz gemäß hochgesetzt. Jetzt sei die Gesellschaft für immer und ewig fortgezogen.
    »Die Gringos kommen nie zurück«, schloss er.
    Sicher war nur, dass sie alles mitgenommen hatten: das Geld, die Dezemberwinde, das Brotmesser, den Drei-Uhr-nachmittags-Donner, den Duft des Jasmins, die Liebe. Geblieben waren allein die staubigen Mandelbäume, die flirrende Hitze in den Straßen, die Holzhäuser mit ihren verrosteten Zinkdächern und wortkargen Bewohnern, verwüstet von Erinnerungen.
    Das erste Mal an jenem Nachmittag wurde der Doktor auf mich aufmerksam, als er mein Staunen über das Knistern bemerkte, das sich wie ein Regen aus einzelnen, über das ganze Zinkdach verteilten Tropfen anhörte. »Das sind die Hühnergeier«, sagte er zu mir, »die laufen den ganzen Tag über die Dächer.« Dann zeigte er mit einem matten Zeigefinger auf die geschlossene Tür:
    »Schlimmer ist es nachts, dann hört man die Toten, die auf den Straßen frei herumlaufen.«
    Er lud uns zum Mittagessen ein, wogegen nichts sprach, da der Hausverkauf nur noch eine Formalität war. Die Mieter waren die Käufer, und die Einzelheiten waren telegrafisch abgesprochen worden. Würden wir genug Zeit haben?
    »Reichlich«, sagte Adriana. »Man weiß heute ja nicht einmal, wann der Zug zurückkommt.«
    Also teilten wir mit ihnen ein kreolisches Gericht, dessen Einfachheit nichts mit Armut zu tun hatte, sondern eine Diät der Mäßigung war, die der Arzt nicht nur bei Tisch befolgte und predigte, sondern für alle Lebensbereiche empfahl. Als ich die Suppe kostete, schien eine schlafende Welt in meinem Gedächtnis zu erwachen. Geschmäcker der Kindheit, verloren, seitdem ich das Dorf verlassen hatte, stellten sich unbeschädigt mit jedem Löffel wieder ein und machten mir das Herz schwer.
    Seit Beginn des Gesprächs fühlte ich mich dem Arzt gegenüber genauso alt wie damals, als ich ihn durch das Fenster geärgert hatte, daher war ich eingeschüchtert, als er sich an mich mit eben der Ernsthaftigkeit und Zuneigung wandte, mit denen er zu meiner Mutter sprach. In meiner Kindheit hatte ich die Angewohnheit, in schwierigen Situationen meine Verwirrung durch schnelles und anhaltendes Zwinkern zu überspielen. Dieser unbeherrschbare Reflex meldete sich plötzlich wieder, als der Doktor mich ansah. Die Hitze war unerträglich geworden. Ich hielt mich eine Weile aus dem Gespräch heraus und fragte mich, wie dieser freundliche, wehmütige Greis einmal der Schrecken meiner Kindheit gewesen sein konnte. Plötzlich, nach einer langen Pause und aufgrund irgendeines banalen Hinweises, sah er mich mit einem großväterlichen Lächeln an.
    »Du bist also der große Gabito«, sagte er. »Was studierst du?«
    Ich überspielte meine Verwirrung mit einer spektralen Übersicht über meine Studien: gutes Abitur an einem Staatsinternat, zwei Jahre und ein paar Monate chaotischer Juristerei, empirischer Journalismus. Meine Mutter hörte mir zu und suchte sogleich die Unterstützung des Arztes.
    »Stellen Sie sich vor, Gevatter, er will Schriftsteller werden.«
    Die Augen des Doktors begannen zu glänzen.
    »Wie wunderbar, Gevatterin!«, sagte er. »Das ist ein Geschenk des Himmels.« Und wandte sich an mich: »Poesie?«
    »Romane und Erzählungen«, sagte ich, das Herz voller Furcht.
    Er begeisterte sich:
    »Hast du Dona Barbara gelesen?«
    »Natürlich«, antwortete ich, »und auch sonst fast alles von Rómulo Gallegos.«
    Gleichsam wieder auferstanden in seinem plötzlichen Enthusiasmus erzählte er uns, dass er Gallegos bei einem Vortrag in Maracaibo kennen gelernt habe, als einen Autor, der seiner Bücher würdig gewesen sei. In Wahrheit entdeckte ich damals in meinem 40-Grad-Fieber für die Sagas des Mississipi langsam die
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