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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen
Autoren: Gabriel García Márquez
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von dem Hinterzimmer trennte. Adriana gewann etwas von ihrem Charme aus früheren Zeiten zurück und rief, um hinter der Trennwand gehört zu werden:
    »Rat mal, wer da ist, Doktor.«
    Die narbige Stimme eines harten Mannes fragte von der anderen Seite her gleichgültig:
    »Wer?«
    Adriana antwortete nicht, sondern gab uns ein Zeichen, ins Hinterzimmer zu gehen. Ein Grauen aus der Kindheit lähmte mich augenblicklich, mein Mund füllte sich mit galligem Speichel, doch ich trat mit meiner Mutter in den voll gestopften Raum, der, früher das Labor der Apotheke, jetzt zu einem Notschlafzimmer hergerichtet war. Dort lag Doktor Alfredo Barboza, älter als alle alten Menschen und alten Tiere zu Lande oder zu Wasser in seiner ewigen geknüpften Hängematte, ohne Schuhe und mit seinem legendären Schlafanzug aus grober Baumwolle, der eher an den Kittel eines Büßers erinnerte. Er blickte starr zur Decke, als er uns aber eintreten hörte, drehte erden Kopf und heftete seine durchsichtigen gelben Augen auf uns, bis er schließlich meine Mutter erkannt hatte.
    »Luisa Santiaga!«, rief er. Mit der Erschöpftheit eines alten Möbelstücks setzte er sich in der Hängematte auf, wurde wieder ganz Mensch und begrüßte uns mit einem kurzen, heißen Händedruck. Er nahm mein Erschrecken wahr und sagte:
    »Seit einem Jahr habe ich chronisch Fieber.« Dann verließ er die Hängematte, setzte sich aufs Bett und sagte in einem Atemzug:
    »Ihr könnt euch nicht vorstellen, was wir hier durchgemacht haben.«
    Dieser einzelne Satz, der ein ganzes Leben zusammenfasste, genügte, damit ich ihn als das sah, was er vielleicht immer gewesen war: ein einsamer, trauriger Mann. Er war groß, hager, hatte eine wunderbare metallische Mähne, die achtlos geschnitten war, und gelbe, intensiv blickende Augen, die der größte Schrecken meiner Kindheit gewesen waren. Nachmittags, wenn wir aus der Schule kamen, kletterten wir, vom Kitzel der Angst getrieben, zum Fenster seines Schlafzimmers hinauf. Dort lag er in der Hängematte und schaukelte sich mit kräftigen Stößen, um die Hitze zu lindern. Das Spiel bestand darin, ihn anzustarren, bis er es merkte, sich plötzlich umwandte und uns mit seinen glühenden Augen anblickte.
    Mit fünf oder sechs Jahren hatte ich ihn zum ersten Mal gesehen, als ich mich eines Morgens mit anderen Schulkameraden in seinen Garten geschlichen hatte, um die riesigen Mangos von seinen Bäumen zu klauen. Plötzlich öffnete sich die Tür des Aborts, der aus Brettern gebaut in einer Ecke des Hofs stand, und heraus kam der Doktor, die Leinenunterhosen festzurrend. Ich sah ihn wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt, bleich und knochig in einem weißen Krankenhausnachthemd, sah diese gelben Augen eines Höllenhundes, die mich für immer anblickten. Die anderen machten sich durch die Hinterpforte davon, aber ich war wie versteinert von seinem starren Blick. Er sah auf die Mangos, die ich gerade vom Baum gepflückt hatte, und streckte die Hand aus.
    »Gib sie her!«, befahl er, sah mich von oben bis unten mit großer Verachtung an und fügte hinzu: »Böser kleiner Patio-Dieb.«
    Ich warf ihm die Mangos vor die Füße und flüchtete in Panik.
    Er war mein persönliches Gespenst. Wenn ich allein unterwegs war, machte ich einen großen Bogen um sein Haus. Wenn ich mit Erwachsenen zusammen war, wagte ich kaum einen flüchtigen Blick auf die Apotheke. Ich sah Adriana, die lebenslänglich an die Nähmaschine hinter der Theke gefesselt war, und ich sah ihn durch das Schlafzimmerfenster, wie er sich heftig in der Hängematte schaukelte, und bekam schon beim bloßen Anblick eine Gänsehaut.
    Er war zu Anfang des Jahrhunderts in den Ort gekommen, einer der zahllosen Venezolaner, denen es gelang, vor dem grausamen Regime von Juan Vicente Gomez über die Grenze nach La Guajira zu fliehen. Der Doktor war einer der Ersten gewesen, die von zwei unterschiedlichen Kräften getrieben wurden: von der Grausamkeit des Regimes in seinem Land und der Hoffnung auf den Bananen-Wohlstand in unserem. Seit seiner Ankunft empfahl er sich durch seinen klinischen Blick - wie man damals sagte - und sein höfliches Wesen. Er war einer der Freunde, die besonders häufig zu Gast bei meinen Großeltern waren, wo immer der Tisch gedeckt war, auch wenn man nicht wusste, wer mit dem Zug kam. Meine Mutter war die Patin seines ältesten Sohnes, und mein Großvater lehrte diesen, flügge zu werden. Ich bin unter ihnen aufgewachsen, so wie ich später unter den
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