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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen
Autoren: Gabriel García Márquez
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weder meine Mutter noch ich damals ahnen, wie bestimmend dieser harmlose zweitägige Ausflug für mich sein sollte, so dass auch das längste und arbeitsamste Leben nicht ausreichen würde, erschöpfend davon zu erzählen. Jetzt, mit mehr als fünfundsiebzig wohlbemessenen Jahren, weiß ich, dass die Entscheidung zu dieser Reise die wichtigste war, die ich in meiner Laufbahn als Schriftsteller zu treffen hatte. Das heißt: in meinem ganzen Leben.
    Bis in die Adoleszenz hinein interessiert sich das Gedächtnis mehr für die Zukunft als für die Vergangenheit, daher waren meine Erinnerungen an Aracataca noch nicht durch Nostalgie verklärt. Ich erinnerte mich so daran, wie es gewesen war: ein Ort, in dem es sich gut leben ließ, wo jeder jeden kannte, am Ufer eines Flusses mit kristallklarem Wasser, das dahinschoss durch ein Bett mit polierten Steinen, weiß und riesig wie prähistorische Eier. Gegen Abend, besonders im Dezember, wenn der Regen vorüber war und die Luft sich in Diamant verwandelte, schien die Sierra Nevada de Santa Marta mit ihren weißen Bergspitzen bis an die Bananenplantagen am anderen Ufer heranzurücken. Von hier aus konnte man die Arhuaco-Indios wie Ameisen in Reihen über die Bergpfade der Sierra eilen sehen, sie hatten Ingwersäcke auf dem Buckel und kauten Cocakugeln, um das Leben abzulenken. Wir Kinder träumten damals davon, aus dem ewigen Weiß Schneebälle zu formen und damit in den glutheißen Straßen Schlachten auszutragen. Die Hitze war so unglaublich, vor allem in der Siestazeit, dass die Erwachsenen darüber Wagten, als handele es sich um eine täglich neue Überraschung. Ich habe von meiner Geburt an ständig wiederholen gehört, dass die Eisenbahnstrecke und die Lager der United Fruit Company nachts gebaut werden mußten , weil es unmöglich gewesen sei, tagsüber das sonnenheiße Werkzeug anzufassen.
    Die einzige Möglichkeit, von Barranquilla nach Aracataca zu gelangen, war ein klappriges Motorschiff, das auf einem in der Kolonialzeit von Sklavenhand ausgehobenen Kanal fuhr, dann durch ein weites, sumpfiges Gewässer, trüb und trostlos, bis zur rätselhaften Ortschaft Ciénaga. Dort bestieg man einen Bummelzug, der ursprünglich der beste des Landes gewesen war, und fuhr, mit vielen müßigen Unterbrechungen in staubglühenden Dörfern und an einsamen Bahnhöfen, die letzte Strecke durch unermessliche Bananenplantagen. Auf diesen Weg machten meine Mutter und ich uns am Samstag, dem 18. Februar 1950 um sieben Uhr abends - es war der Vorabend des Karnevals -, unter einem sintflutartigen Platzregen außerhalb der Zeit und mit einer Barschaft von zweiunddreißig Pesos, die knapp für die Rückfahrt reichen würden, falls das Haus sich nicht zu den erwarteten Konditionen verkaufen ließ.
    Die Passatwinde wehten an jenem Abend so heftig, dass es schwierig war, meine Mutter am Flusshafen dazu zu überreden, an Bord zu gehen. Sie hatte gute Gründe. Die Schiffe waren verkleinerte Versionen der Flussdampfer von New Orleans, hatten aber Benzinmotore, die alles an Bord in ein böses, fiebriges Zittern versetzten. Es gab einen kleinen Salon mit Pfosten, an denen man auf verschiedenen Ebenen Hängematten befestigen konnte, und mit Holzbänken, auf denen jeder unter Einsatz der Ellenbogen einen Platz zu ergattern suchte, für sich und das übermäßige Gepäck, Säcke mit Waren oder Körbe mit Hühnern oder sogar mit lebenden Schweinen. Es gab ein paar stickige Kabinen mit jeweils zwei Feldbetten, fast immer von armseligen Hürchen belegt, die während der Fahrt Notdienste erwiesen. Da wir spät dran waren und keine Kabine mehr frei fanden, auch keine Hängematten dabeihatten, besetzten meine Mutter und ich überfallartig zwei Eisenstühle im Mittelgang und richteten uns dort für die Nacht ein.
    So wie meine Mutter es befürchtet hatte, beutelte der Sturm das wagemutige Schiff, als wir den Magdalena überquerten, der, so kurz vor der Mündung, das Temperament eines Ozeans hat. Ich hatte mich am Hafen reichlich mit den billigsten Zigaretten eingedeckt, schwarzer Tabak und ein Papier, das schon fast an Lumpen erinnerte, und begann nach meiner damaligen Art zu rauchen, ich zündete eine Zigarette am Stummel der letzten an, während ich wieder einmal Licht im August von William Faulkner las, der damals der treueste meiner Schutzdämonen war. Meine Mutter klammerte sich an ihren Rosenkranz wie an eine Handwinde, die einen festgefahrenen Traktor aus dem Schlamm hätte ziehen oder ein Flugzeug in
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