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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen
Autoren: Gabriel García Márquez
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spielten. Es war beklemmend, auf den Straßen viele Männer mit versehrten Armen zu sehen, Fischer, die nicht rechtzeitig die Dynamitstäbe geworfen hatten. Als das Schiff vorüberfuhr, sprangen die Kinder ins Wasser und tauchten nach den Münzen, die ihnen die Passagiere zuwarfen.
    Es war kurz vor sieben, als wir in einem übel riechenden Sumpf nah der Ortschaft Ciénaga ankerten. Trupps von Lastenträgern, bis zu den Knien im Schlamm, nahmen uns in die Arme und trugen uns inmitten eines Wirbels von Hühnergeiern, die sich die Abfälle im Morast streitig machten, platschend an Land. Wir frühstückten gemächlich am Hafen, aßen die köstlichen Ciénaga-Fische mit gebratenen Bananenscheiben, als meine Mutter in ihrem Privatkrieg wieder in die Offensive ging.
    »Dann sag mir ein für alle Mal«, sagte sie, ohne den Blick zu heben, »was soll ich deinem Papa sagen?«
    Ich versuchte, Zeit zum Nachdenken zu gewinnen.
    »Über was?«
    »Über das Einzige, was ihn interessiert«, sagte sie etwas irritiert, »über dein Studium.«
    Ich hatte das Glück, dass ein aufdringlicher Gast, der sich über die Heftigkeit des Gesprächs wunderte, meine Gründe wissen wollte. Die sofortige Antwort meiner Mutter schüchterte mich nicht nur ein wenig ein, sondern überraschte mich auch bei ihr, die so eifersüchtig über ihr Privatleben wachte.
    »Er will Schriftsteller werden«, sagte sie.
    »Ein guter Schriftsteller kann gutes Geld verdienen«, erwiderte der Mann ernsthaft. »Besonders wenn er für die Regierung arbeitet.«
    Ich weiß nicht, ob meine Mutter aus Diskretion oder aus Angst vor den Argumenten des unverhofften Gesprächspartners das Thema fallen ließ, jedenfalls beklagten schließlich beide einmütig die Unsicherheiten bei meiner Generation und teilten Erinnerungen an bessere Zeiten. Als sie am Ende nach gemeinsamen Bekannten suchten, entdeckten sie, dass wir sowohl von Seiten der Cotes als auch der Iguaráns miteinander verwandt waren. In jener Zeit widerfuhr uns das fast bei jedem Zweiten, den wir an der Karibikküste trafen, doch meine Mutter feierte es stets als unerhörtes Ereignis.
    Zur Bahnstation fuhren wir in einer einspännigen Viktoria, vielleicht dem letzten Exemplar einer legendären Spezies, die im Rest der Welt schon ausgestorben war. Meine Mutter blickte gedankenversunken auf die unfruchtbare, vom Salpeter verbrannte Ebene, die hinter dem morastigen Hafen begann und in den Horizont überging. Für mich war das ein historischer Ort: Eines Tages, ich war wohl drei oder vier Jahre alt, hatte mich mein Großvater an der Hand durch diese glühende Ödnis geführt; er lief schnell und sagte mir nicht warum, und plötzlich standen wir vor einer weiten Fläche grünen Wassers mit Schaumrülpsern, auf der eine ganze Gesellschaft von ertrunkenen Hühnern trieb.
    »Das ist das Meer«, sagte er.
    Enttäuscht fragte ich ihn, was es am anderen Ufer gebe, worauf er ohne jeden Zweifel antwortete:
    »Auf der anderen Seite gibt es kein Ufer.«
    Heute, nachdem ich so viele Meere vorwärts und rückwärts gesehen habe, denke ich immer noch, dass dies eine seiner großen Antworten war. Jedenfalls entsprach keines der Bilder, die ich mir zuvor gemacht hatte, diesem schäbigen Ozean, an dessen steinigem Strand man wegen all der verfaulten Mangrovenzweige und Muschelsplitter nicht laufen konnte. Es war grauenvoll.
    Meine Mutter musste über das Meer von Ciénaga ähnlich denken, denn sobald sie es links von der Kutsche auftauchen sah, seufzte sie:
    »Kein Meer ist wie das von Riohacha!«
    Bei dieser Gelegenheit erzählte ich ihr von meiner Erinnerung an die ertrunkenen Hühner, und, wie allen Erwachsenen, schien auch ihr das eine Kindheitsphantasie. Sie betrachtete jeden Platz, an dem wir vorbeikamen, und an ihrem unterschiedlichen Schweigen erkannte ich, was sie über jeden einzelnen dachte. Wir fuhren am Rotlichtviertel vorbei, das jenseits der Bahnstrecke liegt, bunte Häuschen mit verrosteten Dächern und den alten Papageien von Paramaribo, die von ihren an den Vordächern hängenden Reifen aus die Kunden auf Portugiesisch ankrächzten. Wir fuhren an der Tränke der Lokomotiven vorbei, dem riesigen Eisengewölbe, in dem Zugvögel und verirrte Möwen zum Schlafen Schutz suchten. Wir fuhren am Rand der Stadt entlang, ohne uns hineinzubegeben, sahen aber die breiten, verlassenen Straßen und die Häuser aus der alten Glanzzeit, sie waren einstöckig, mit bis zum Boden reichenden Fenstern, aus denen von frühmorgens an pausenlos
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