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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Stimme wahr:
    »Kann ich deinem Papa sagen, dass du dich in seinem Sinne entscheiden wirst?«
    »Nein«, erwiderte ich schroff. »Das nicht.«
    Offensichtlich suchte sie einen anderen Ausweg. Aber ich ermöglichte ihr keinen.
    »Dann ist es besser, dass ich ihm gleich die ganze Wahrheit sage. Damit es nicht nach Täuschung aussieht.«
    »Gut«, sagte ich erleichtert. »Sag ihm die Wahrheit.«
    So verblieben wir, und wer meine Mutter nicht gut kannte, hätte meinen können, damit sei nun alles beendet, ich aber wusste, dass es sich nur um eine Pause handelte, um wieder Atem zu schöpfen. Kurz darauf schlief sie fest. Eine leichte Brise verscheuchte die Stechmücken und erfüllte die neue Luft mit Blumenduft. Das Schiff fuhr anmutig wie unter Segeln dahin.
    Wir waren auf der Ciénaga Grande, einem weiteren Mythos meiner Kindheit. Ich hatte sie mehrmals befahren, wenn mein Großvater, Oberst Nicolás Ricardo Márquez Mejía, den nur wir Enkel Papalelo nannten, mich von Aracataca nach Barranquilla brachte, um meine Eltern zu besuchen. »Vor der Ciénaga muss man keine Angst haben, wohl aber Respekt«, hatte er mir gesagt, als er von den unvorhersehbaren Launen des Gewässers sprach, das sich wie ein Teich, aber auch wie ein nicht bezähmbarer Ozean gebärden konnte. In der Regenzeit war die Lagune den Stürmen von der Sierra ausgesetzt. Von Dezember bis April, wenn das Wetter eigentlich zahm sein sollte, fielen die Passatwinde aus dem Norden so heftig über die Ciénaga her, dass jede Nacht zum Abenteuer wurde. Meine Großmutter mütterlicherseits, Tranquilina Iguarán, genannt Mina, wagte die Überfahrt nur in Notfällen, nachdem sie eine Fahrt des Grauens erlebt hatte, bei der man bis Tagesanbruch in der Mündung des Riofrío hatte Schutz suchen müssen.
    In dieser Nacht war die Ciénaga Grande zum Glück ein ruhiges Gewässer. Von den Bugfenstern aus, wo ich vor Morgengrauen ein wenig Luft schnappte, sah man die Lichter der Fischerboote wie Sterne im Wasser schweben. Es waren unzählige, und die unsichtbaren Fischer unterhielten sich wie bei einem Treffen, da ihre Stimmen auf der Ciénaga gespenstisch weit trugen. Auf das Geländer gestützt, versuchte ich die Konturen der Sierra zu erspähen, und plötzlich überraschte mich der erste Prankenschlag der Nostalgie.
    An einem anderen frühen Morgen wie diesem hatte mich Papalelo, als wir die Ciénaga überquerten, schlafend in der Kabine zurückgelassen und war in die Bar gegangen. Ich weiß nicht, wie spät es gewesen sein mag, als aufgeregter Lärm von vielen Menschen das Surren des rostigen Ventilators und das Klappern der Bleche in der Kabine übertönte und mich weckte. Ich war kaum älter als fünf und sehr erschrocken, da aber schnell wieder Ruhe eintrat, dachte ich, es sei vielleicht nur ein Traum gewesen. Gegen Morgen, schon am Anlegeplatz in Ciénaga, rasierte sich mein Großvater mit dem Messer bei offener Tür vor dem Spiegel, der am Türrahmen hing. Eine genaue Erinnerung: Er hatte das Hemd noch nicht angezogen, aber seine ewigen Hosenträger, breit und grün gestreift, spannten sich über dem Unterhemd. Während er sich rasierte, unterhielt er sich mit einem Mann, den ich noch heute auf den ersten Blick wiedererkennen würde. Er hatte das unverwechselbare Profil eines Raben, eine Seemannstätowierung auf der rechten Hand und trug um den Hals mehrere schwere Goldketten, dazu, ebenfalls aus Gold, Armbänder und Reifen an beiden Handgelenken. Ich hatte mich gerade angekleidet und zog mir auf dem Bett sitzend die Schnürstiefel an, als der Mann zu meinem Großvater sagte:
    »Kein Zweifel, Oberst, die wollten Sie ins Wasser werfen.«
    Mein Großvater lächelte, ohne mit dem Rasieren aufzuhören, und erwiderte auf seine hochfahrende Art:
    »Sie waren gut beraten, das nicht zu wagen.«
    Erst da begriff ich den Tumult der vergangenen Nacht und war sehr beunruhigt bei dem Gedanken, dass jemand den Großvater in die Lagune hätte werfen können.
    Die Erinnerung an diesen nie aufgeklärten Vorfall überfiel mich an jenem Morgen, als ich mit meiner Mutter unterwegs war, das Haus zu verkaufen, und den Schnee der Sierra betrachtete, der sich im ersten Sonnenlicht blau abzeichnete. Die Verzögerung in den Kanälen erlaubte uns, bei Tageslicht die leuchtende Sandbarriere zu sehen, die notdürftig das Meer von der Lagune trennte; dort gab es Fischerdörfer und Netze, die zum Trocknen am Strand ausgelegt waren, und verwahrloste, magere Kinder, die mit Lumpenbällen Fußball
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