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Berliner Aufklaerung - Roman

Berliner Aufklaerung - Roman

Titel: Berliner Aufklaerung - Roman
Autoren: Thea Dorn
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EIN FRAGMENTIERTES SELBST
    Es war kein schöner Mord. Aber ein echter. Die Möglichkeit, daß sich Professor Doktor Rudolf Schreiner selbst in vierundfünfzig Teile zerlegt, in Gefrierbeutel verpackt und gleichmäßig auf die vierundfünfzig Postfächer des Philosophischen Instituts an der Universität Berlin verteilt hatte, konnte ausgeschlossen werden. Auch ereigneten sich Unfälle dieser Art eher selten.
    Die frühnachmittägliche Oktobersonne brach hinter Wolken hervor und tauchte den Postraum mit seinen offenen Fächern in staubiges Licht. Die roten, nach unten etwas ausgelaufenen Lettern, die sich quer über die beiden Glaswände des Raumes zogen, leuchteten auf. SCHREINER IST TOT. DIE WAHRHEIT IST IM FRAGMENT.
    Anja Abakowitz trat einen Schritt von den Postfächern zurück. Sie hatte Schreiner nie ausstehen können, aber das hier fand sie nun doch ein bißchen übertrieben. Gleichwohl mußte sie zugeben, daß alles in allem der Anblick des fragmentierten Schreiner immer noch erträglicher war als der des lebenden.
    Aus dem Postfach, in dem Schreiner sonst seine Korrespondenzen empfangen hatte, ragte eine speckige Hand, eingepackt in einen blutverschmierten, sorgfältig zugeknoteten Plastikbeutel. Ein klobiger Goldring am Ringfinger beseitigte letzte Zweifel an der Identität der Fleischteile – die »Kalte Platte« mit eingelegtem Brillanten war institutsbekannt.

    Anja ließ ihren Blick langsam über die Postfächer gleiten: ein Fuß; die andere Hand; die linke Schädelhälfte mit Auge, abgetrennter Nasenwurzel und Ohr; noch ein Fuß; etwas, das ein Ellenbogen hätte sein können. Die anatomische Herkunft der meisten Beutelinhalte konnte Anja nicht klar ausmachen. In jedem Fall hatte der Mörder oder die Mörderin solide Arbeit geleistet, denn die Knochen, die sich in der blutig rohen Masse abzeichneten, zeigten so saubere Schnittflächen wie Knochen im Suppenfleisch. Leicht irritiert stellte Anja fest, daß sich keine Kleidungsfetzen unter dem Gemetzel befanden. Der Mörder schien ein gewissenhafter Mensch zu sein, wenn er im Moment der Zerlegung auch noch daran gedacht hatte, Schreiners Textilien zu schonen.
    Anja wandte sich ab. Während sie in die fahle Herbstsonne blinzelte, fragte sie sich, ob es sich bei dieser Inszenierung um ein etwas überzogenes Anschauungsbeispiel für das philosophische Problem der Verteilungsgerechtigkeit handelte. Einige Institutsmitglieder hatten schon immer zu Überspanntheiten geneigt. Wie verteilte man aber einen Philosophieprofessor auf vierundfünfzig Mitarbeiterpostfächer so, daß die Verteilung gerecht war? Der monumentale Schreiner mochte sicher zwei Zentner gewogen haben. Das würde knappe zwei Kilo Schreiner pro Postfach bedeuten. Anja fand es allerdings fraglich, ob diese Art der Verteilung wirklich gerecht war, denn kam derjenige, der zwei Kilo von Schreiners Innereien oder ähnlichem erhielt, nicht besser weg als derjenige, der zwei Kilo Beinfleisch in der Post hatte? Wieviel Gramm Fuß würden Schreiners Hirn aufwiegen? Es gab auch die Möglichkeit, daß Schreiner gemäß den Bedürfnissen
der Empfänger aufgeteilt worden war. Anja konnte sich kaum vorstellen, wie eine sinnvolle Verteilung in diesem Fall aussehen mochte. Ebenso erschien ihr eine Verteilung entsprechend der Verdienste der Empfänger schwierig. Sie kam zu dem Schluß, daß sich ein Professor nicht gerecht unter seinen Kollegen verteilen ließ. Vielleicht war das die philosophische Botschaft des Anschlags.
    Ein kurzes, trockenes Klopfen an einer der Fensterscheiben holte Anja aus ihren Gedanken. Als sie sich umdrehte, entdeckte sie über dem Kopiergerät ein Gesicht und zwei Hände, die sich an das Glas preßten. Beim zweiten Hinsehen erkannte Anja in dem zerstörten Antlitz mit den zotteligen rötlichen Haaren, zwei fehlenden Schneidezähnen und farblos wäßrigen Augen ihren ehemaligen Kommilitonen Fridtjof wieder. Er hatte ungefähr zur selben Zeit wie sie mit dem Philosophiestudium begonnen. Von Schreiner war ihm damals eine große Karriere prophezeit worden. Als Anja vor vier Jahren das Institut verlassen hatte, war bereits abzusehen gewesen, daß die Liebe zur Weisheit Fridtjof unglücklich machen würde. Die Dinge hatten ihre Erfüllung gefunden.
    Anja schenkte ihren letzten Blick der in einem unteren Fach darniederliegenden Männlichkeit Schreiners, dann verließ sie den Postraum.
    Der Weg ins obere Stockwerk führte durch ein geräumiges Foyer, über eine geschwungene Treppe mit anthrazit
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