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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Schnauben in das frische Dämmerlicht der Plantagen, die Zeit verdichtete sich, und die Meeresbrise war nicht mehr zu spüren. Ich musste die Lektüre nicht unterbrechen, um zu wissen, dass wir in das hermetische Reich der Bananenregion gelangt waren.
    Die Welt veränderte sich. Rechts und links von den Gleisen gingen die endlosen symmetrischen Plantagenwege ab, auf denen Ochsenkarren, beladen mit grünen Bündeln, unterwegs waren. Plötzlich, auf überraschend unbepflanzten Flächen, tauchten Siedlungen aus rotem Ziegel auf, Büros mit Segeltuchmarkisen an den Fenstern und Ventilatoren an den Decken und ein einsames Hospital in einem Mohnfeld. Jeder Fluss hatte sein Dorf und seine Eisenbrücke, über die der Zug aufheulend fuhr, und die Mädchen, die im eiskalten Wasser badeten, sprangen wie die Maifische hoch, um mit flüchtig aufscheinenden Brüsten den Reisenden aus der Ruhe zu bringen.
    In Riofrio stiegen mehrere schwer beladene Arhuaco-Familien zu, die Rucksäcke bis zum Rand gefüllt mit Avocados aus der Sierra, den schmackhaftesten des Landes. Sie hüpften durch den Waggon hin und her, auf der Suche nach Sitzplätzen, doch als der Zug wieder anfuhr, waren nur noch zwei weiße Frauen mit einem Neugeborenen und ein junger Priester übrig geblieben. Das Kind hörte die ganze Fahrt über nicht auf zu weinen. Der Priester trug Stiefel, einen Tropenhelm, eine Sutane aus grobem Leinen mit quadratischen Flicken, wie ein Schiffssegel, und redete, während das Kind schrie, und irnmrner so, als stehe er auf der Kanzel. Gegenstand seiner Predigt war die mögliche Rückkehr der Bananengesellschaft. Seitdem diese abgezogen war, sprach man in der Region von nichts anderem, und die Meinung war geteilt zwischen denen, die eine Rückkehr wünschten, und jenen, die sie nicht wünschten. Ale aber glaubten daran. Der Priester war dagegen und drückte es mit einem Urteil aus, das so persönlich war, dass es den Frauen unsinnig erschien:
    »Die Gesellschaft hinterlässt überall den Ruin.«
    Es war das einzig Originelle, was er sagte, aber er konnte es nicht erklären, und die Frau mit dem Kind verwirrte ihn mit dem Argument, dass Gott nicht mit ihm einverstanden sein könne.
    Wie immer hatte die Nostalgie die schlechten Erinnerungen gelöscht und die guten verherrlicht. Niemand bleibt davon verschont. Vom Zugfenster aus sah man die Männer in ihren Haustüren sitzen, und es genügte, ihnen ins Gesicht zu blicken, um zu wissen, auf was sie warteten. Die Waschfrauen an den steinigen Stranden sahen dem Zug mit der gleichen Hoffnung nach. Jeder Fremde, der mit einem Aktenkoffer erschien, war für sie der Mann von der United Fruit Company, der kam, um die Vergangenheit wieder herzustellen. Bei jedem Treffen, jedem Besuch, jedem Brief tauchte früher oder später der unvermeidliche Satz auf: »Man sagt, die Gesellschaft kommt zurück.« Niemand wusste, wer das wann oder weshalb gesagt hatte, aber niemand zog es in Zweifel.
    Meine Mutter glaubte, von alldem geheilt zu sein, da sie nach dem Tod ihrer Eltern jede Verbindung zu Aracataca abgebrochen hatte. Doch ihre Träume verrieten sie. Zumindest wenn sie etwas geträumt hatte, das ihr interessant genug erschien, um es beim Frühstück zu erzählen, hatte das immer etwas mit ihren wehmütigen Erinnerungen an die Bananenregion zu tun. Sie überstand die härtesten Zeiten, ohne das Haus zu verkaufen, weil sie hoffte, das Vierfache dafür zu bekommen, wenn die Gesellschaft zurückkehrte. Doch schließlich hatte der unerträgliche Druck der Realität meine Mutter besiegt. Als sie aber den Priester sagen hörte, die Rückkehr der Gesellschaft stehe unmittelbar bevor, machte sie eine trostlose Gebärde und flüsterte mir ins Ohr:
    »Jammerschade, dass wir nicht noch ein bisschen warten können, um mehr Geld für das Haus zu bekommen.«
    Während der Priester redete, fuhren wir an einem Ort vorbei, in dem sich unter drückender Sonne eine Menschenmenge auf der Plaza versammelt hatte und eine Kapelle muntere Militärmusik spielte. Für mich war immer ein Städtchen wie das andere gewesen. Wenn Papalelo mich in das gerade eröffnete Kino Olympia von Don Antonio Daconte mitnahm, fiel mir auf, dass die Bahnstationen in den Westernfilmen denen unseres Zuges ähnelten. Später, als ich Faulkner zu lesen begann, schienen mir auch die Städtchen seiner Romane genau wie die unseren zu sein. Und das war nicht weiter überraschend, denn auch diese waren in dem heilbringenden Geist der United Fruit Company
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