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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Zug passierte um elf Uhr die Finca Macondo und hielt zehn Minuten später in Aracataca. An dem Tag, als ich mit meiner Mutter zum Hausverkauf fuhr, hatte er anderthalb Stunden Verspätung. Ich war auf der Toilette, als er beschleunigte, und durch das Fenster drang ein glutheißer, trockener Wind, verwirbelt mit dem Getöse der uralten Waggons und dem entsetzten Pfeifen der Lokomotive. Mein Herz schlug an die Rippen, und eisige Übelkeit ließ meine Eingeweide erstarren. Ich stürzte hinaus, getrieben von Panik, als hätte die Erde gebebt, und sah meine Mutter, die unbeirrbar auf ihrem Platz saß. Laut zählte sie die Örtlichkeiten auf, die sie durchs Fenster vorbeiziehen sah, wie flüchtige Fetzen eines Lebens, das gewesen war und nie wieder sein würde.
    »Das sind die Grundstücke, die sie deinem Vater mit dem Märchen, dort gebe es Gold, angedreht haben.«
    Wie ein Hauch glitt das Haus der Adventistenschule vorbei, ein blühender Garten und am Portal ein Schild: The sun shines for all.
    »Das war das Erste, was du auf Englisch gelernt hast«, sagte meine Mutter.
    »Nicht das Erste«, sagte ich. »Das Letzte.«
    Die Zementbrücke glitt vorbei und der Graben mit seinem tRuben Wasser, der aus der Zeit stammte, als die Gringos sich des Flusses bemächtigt hatten, um ihn auf ihre Plantagen zu leiten.
    »Das Viertel der Dirnen, wo die Männer noch frühmorgens mit brennenden Geldbündeln statt Kerzen Cumbiamba tanzten«, sagte sie.
    Die Bänke an der Promenade, die von der Sonne rostigen Mandelbäume, der Garten der kleinen Montessori-Schule, in der ich lesen lernte. Einen Augenblick lang erglänzte im Fenster die Gesamtansicht des Dorfes, das im strahlenden Licht des Februarsonntags dalag.
    »Der Bahnhof!«, rief meine Mutter. »Wie muss sich die Welt verändert haben, dass niemand mehr auf den Zug wartet.«
    Dann hörte die Lokomotive auf zu pfeifen, verlangsamte die Fahrt und blieb mit einem langgezogenen Klagelaut stehen. Zuerst fiel mir die Stille auf. Eine körperhafte Stille, die ich mit verbundenen Augen von jeder anderen Stille der Welt hätte unterscheiden können. Die Rückstrahlung der Hitze war so stark, dass man alles wie durch gewelltes Glas sah. Die kleine gepflasterte Plaza hatte nicht einmal eine barmherzige Erinnerung an die dreitausend von der Staatsgewalt niedergemetzelten Arbeiter bewahrt. Denn so weit der Blick reichte, gab es keine Spur von menschlichem Leben und nichts, auf dem nicht wie Tau der glutheiße Staub lag. Meine Mutter blieb noch ein paar Minuten auf ihrem Platz sitzen, schaute auf das tote, zwischen verlassenen Straßen hingestreckte Dorf und rief schließlich voller Grauen:
    »Oh mein Gott!«
    Das war alles, was sie sagte, bevor sie ausstieg.
    Solange der Zug noch dort stand, hatte ich den Eindruck, dass wir nicht völlig allein waren. Als er aber mit einem kurzen und herzzerreißenden Pfeifen anfuhr, blieben meine Mutter und ich schutzlos unter der infernalischen Sonne zurück, und die ganze Schwermut des Ortes lastete auf uns. Aber wir sagten nichts. Der alte Bahnhof aus Holz, mit seinem Zinkdach und dem umlaufenden Balkon, war so etwas wie die tropische Version der Bahnhöfe, die wir aus den Cowboyfilmen kannten. Wir durchquerten den verlassenen Bahnhof, dessen Fliesen bereits unter dem Druck des Unkrauts zu springen begannen, und tauchten, immer den Schutz der Mandelbäume suchend, in die Mattigkeit der Siesta-Zeit ein. Wir beeilten uns, denn die Zeit war knapp, um das Geschäft unter Dach und Fach zu bringen. Früher hätte sie nicht ausgereicht, da der Zug um zwei Uhr mittags zurückkehrte, aber seit ein paar Jahren fuhr er dank der Unordnung der neuen Zeiten erst gegen Abend zurück, allerdings nicht zu einer festen Uhrzeit.
    Schon als Kind hatte ich diese trägen Siestas verabscheut, weil wir nicht wussten, was wir solange tun sollten. »Seid still, wir schlafen«, flüsterten die Schläfer, ohne aufzuwachen. Die Kaufläden, die Behörden, die Schule, sie alle schlossen um zwölf Uhr und wurden erst kurz vor drei wieder geöffnet. Die Wohnräume schwebten dann in einem Limbus der Benommenheit. In einigen Häusern war die Luft so unerträglich, dass man die Hängematten in den Patio hängte oder Hocker an die Mandelbäume lehnte, auf denen man dann, mitten auf der Straße, im Schatten schlief. Nur das Hotel am Bahnhof, die dazugehörige Bar und der Billardsalon sowie das Telegrafenamt hinter der Kirche blieben geöffnet. Alles war genau wie in der Erinnerung, nur kleiner und
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