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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen
Autoren: Gabriel García Márquez
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die ihnen nachschauten. Die Mutter und die Schwester des toten Diebes waren gekommen, um Blumen für das Grab zu bringen.
    Dieses Bild verfolgte mich noch jahrelang, als ein einhelliger Traum, den das ganze Dorf an den Fenstern hatte vorbeiziehen sehen, bis es mir gelang, ihn durch eine Erzählung auszutreiben. Doch das Drama der Frau und des Kindes und deren unbeirrbare Würde waren mir erst an dem Tag wirklich bewusst geworden, an dem ich mit meiner Mutter das Haus verkaufen wollte und überrascht feststellte, dass ich durch dieselbe einsame Straße ging, zur gleichen tödlichen Stunde.
    »Man fühlt sich, als wäre man der Dieb«, sagte ich.
    Meine Mutter verstand mich nicht. Und als wir an dem Haus von Maria Consuegra vorbeigingen, schaute sie nicht einmal auf die Tür, an der man noch im Holz sah, wo das Loch ausgebessert worden war, das der Schuss gerissen hatte. Jahre später, als wir gemeinsam dieser Reise gedachten, stellte ich fest, dass meine Mutter sich sehr wohl an die Tragödie erinnerte, aber alles dafür gegeben hätte, sie zu vergessen. Eine Regung, die offensichtlich wurde, als wir an dem Haus vorbeikamen, in dem Don Emilio, besser bekannt als der Belgier, gewohnt hatte, ein Veteran aus dem Ersten Weltkrieg, dessen beide Beine in einem Minenfeld der Normandie versehrt worden waren und der sich an einem Pfingstsonntag mittels Goldzyaniddämpfen vor den Martern der Erinnerung in Sicherheit gebracht hatte. Ich war damals höchstens sechs Jahre alt, erinnere mich aber, als sei es gestern gewesen, an den Wirbel, den diese Nachricht um sieben Uhr morgens auslöste. Das Ereignis war so denkwürdig, dass meine Mutter, als wir in den Ort zurückkehrten, um das Haus zu verkaufen, nach fast zwanzig Jahren endlich ihr Schweigen brach.
    »Der arme Belgier«, seufzte sie. »Wie du gesagt hast, er hat nie wieder Schach gespielt.«
    Wir hatten vorgehabt, direkt zum Haus zu gehen. Als aber nur noch ein Block fehlte, blieb meine Mutter plötzlich stehen und bog eine Ecke vorher ab.
    »Wir gehen besser hier lang«, sagte sie. Und als ich wissen wollte warum, antwortete sie: »Weil ich Angst habe.«
    So wurde mir auch der Grund für meine Übelkeit klar: Es war Angst, nicht nur die Angst, meinen Gespenstern zu begegnen, sondern Angst vor allem. Also gingen wir eine Parallelstraße entlang, ein Umweg, der sich nur damit erklären ließ, dass wir nicht an unserem Haus vorbeiwollten. »Ich hätte nicht den Mut gehabt, es zu sehen, bevor ich nicht mit jemandem gesprochen hatte«, sollte sie mir später sagen. So war es. Ohne irgendeine Vorwarnung schleifte sie mich in die Apotheke von Doktor Alfredo Barboza, ein Eckhaus, keine hundert Meter von dem unseren entfernt.
    Adriana Berdugo, die Frau des Arztes, nähte so gedankenversunken an ihrer einfachen mit einer Handkurbel betriebenen Domestic-Maschine, dass sie nicht hörte, wie meine Mutter auf sie zuging und dann, flüsternd fast, sagte:
    »Gevatterin.«
    Adriana hob die Augen, die von dicken Gläsern für die Alterssichtigkeit entstellt waren, nahm die Brille ab, zögerte einen Augenblick und sprang dann auf, mit offenen Armen und einem Klagelaut:
    »Ach, Gevatterin!«
    Meine Mutter war schon hinter der Theke und ohne noch etwas zu sagen, umarmten sich beide, um gemeinsam zu weinen. Ich sah sie von der anderen Seite der Theke aus, wußte nicht, was tun, erschüttert von der Gewissheit, dass diese lange Umarmung stiller Tränen etwas Endgültiges war, das mein Leben für immer prägen würde.
    Die Apotheke war zu Zeiten der Bananengesellschaft die erste am Platz gewesen, aber nun standen in den schmalen Schränken nur noch ein paar golden beschriftete Keramiktiegel. Die Nähmaschine, der Mörser, der Äskulapstab, die noch tüchtige Pendeluhr, der Druck mit dem Eid des Hippokrates, die altersschwachen Schaukelstühle, es waren noch all die Dinge, die ich als Kind gesehen hatte, und sie standen an ihrem alten Platz, der Rost der Zeit hatte sie jedoch verwandelt.
    Adriana selbst war ein Opfer. Obwohl sie wie früher ein Kleid mit großen tropischen Blumen trug, war ihr nichts von der Lebhaftigkeit und dem Schalk anzumerken, für die sie bis weit in ihre reifen Jahre berühmt gewesen war. Unverändert war nur der Baldriangeruch, der sie umgab, er machte die Katzen verrückt und blieb für mich lebenslang mit einem Gefühl von Schiffbruch verbunden.
    Als Adriana und meine Mutter keine Tränen mehr hatten, war ein zähes, kurzes Husten hinter der Holzwand zu hören, die uns
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