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Leben bis zum Anschlag

Leben bis zum Anschlag

Titel: Leben bis zum Anschlag
Autoren: Elisabeth Rapp
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Nichts, absolut bedeutungslos.

    Man muss nicht reagieren, wenn er was sagt. Nicht nötig. Ob er da ist oder nicht, scheißegal. Keaths Atem stockt. Da ruft wer!
    Aber nicht Nora. Nicht nach ihm.
    Nur wenn er sich total konzentriert, kann er seine Schritte koordinieren. Steif und hölzern. So schnell kann man einen Tänzer zum Krüppel machen, denkt Keath.
     
    Mehmet kann seine Befriedigung über Keaths Abgang nicht verbergen. Er will es auch nicht. »Endlich ist er weg.«
    »Du Arsch, du ruinierst deine Freundschaft. Nicht meine«, stellt Nora klar.
    Aber Keath ist weg und Nora ist verunsichert und gibt Mehmet jetzt doch einen kleinen Stoß mit dem Fuß.
    Klar und deutlich hört Mehmet, wie nacheinander die Stimmen der Muezzins in Istanbul zum fünften Gebetsaufruf einsetzen. Dann verschwimmt alles um ihn herum und er fällt in Schlaf.
    »Mehmet?«, ruft Nora aus weiter Ferne. Pause. »Keath!!!«
     
    Erst will Keath einfach weitergehen, aber irgendwas in Noras Stimme stimmt ihn um. Er dreht sich um. Etwa hundert Meter von ihm entfernt steht Nora. Sie steht, Mehmet liegt.
    »Hol die Vespa! Schnell!!«
    Panik ist in ihrer Stimme. Neugierige nähern sich Nora und Mehmet, magisch angezogen und doch jederzeit bereit, sich aus dem Staub zu machen. Das überzeugt ihn endgültig – es muss was passiert sein. Keath rennt los.
    Und brettert keine vierzig Sekunden später mit der Vespa über die Wiese direkt auf Nora zu.
    Mehmet liegt auf der Seite, seine Lippen sind seltsam geschwollen, der Atem pfeift, er ist vollkommen weggetreten.

    Nora ist verzweifelt. »Er hat einen Stich am Bein und ich hab den Rest von ’ner zerquetschten Wespe gefunden!«
    Wie einen Rucksack wirft sich Keath Mehmet auf den Rücken und steigt mit ihm auf die Vespa. »Komm rauf, klemm ihn zwischen uns, und halt dich an mir fest! Wir müssen ins Krankenhaus.«
    Nora findet keinen Halt. »Meine Arme sind zu kurz!«
    Mit einer schnellen Bewegung zieht Keath sich den Gürtel aus der Hose, legt ihn um seinen Bauch und reicht Nora die Enden. Dann fährt er los. Der kürzeste Weg zum Krankenhaus ist quer durch eine Kleingartenkolonie.
    Flüche, Beschimpfungen, entrüstete Drohungen, hundert Schreie nach der Polizei begleiten ihren Weg. Die Vespa qualmt, spuckt, stottert und heult. Noras Arme sind verkrampft. Mehmet kann sich nicht alleine aufrecht halten, mit schweißnassen Händen hält sie ihn, millimeterweise rutscht ihr der Gürtel aus der Hand. Mehmet pinkelt Keath in den Rücken, der Vespasitz schwimmt vor Nässe.
    Halb erstickt und angepisst fährt Keath bis in den Vorraum der Notaufnahme. Die wurde bereits vom Pförtner vorgewarnt, dessen Schranke Keath mit wilden »Notfall! Notfall!«-Schreien umfahren hat.
    Die Glastür ist weit offen und die Sanitäter stehen bereit.
    Sie haben schon vieles gesehen, aber eine Vespa vor ihrem Anmeldetresen noch nicht. Einer pflückt Nora vom nassen Sitz, zwei andere verfrachten Mehmet auf die Trage. Er gurgelt und röchelt grauenhaft.
    »Was hat er?«
    Tränen laufen Nora übers Gesicht. »Einen Wespenstich!«
    Da wird Mehmet schon im Laufschritt weggefahren.

    Keath keucht und ringt nach Luft. Er hat wund gescheuerte Striemen auf dem Bauch.
    »Wollt ihr euch waschen?«, fragt einer sachlich nach kurzem Schnuppern.
    Sie nicken.
    »Ich bring euch zum Waschraum, aber stellt vorher bitte die Maschine draußen ab. Ich kippe Wasser über den Sitz.«
    »Danke«, sagt Keath.
    Der nasse Fleck auf seinen Shorts ist hinten. Noras im Schritt.
     
    Mit herzzerreißender Verzweifl ung blickt Leif aus einem Auge Maika an. Das andere Auge ist von purpurner Farbe und zugeschwollen. Leifs Gesicht wechselt die Farbe wie ein Vielfleck-Anglerfisch, während er Maika beobachtet, wie sie seine Stirn und Handgelenke mit eiskalten Lappen kühlt.
    Er stöhnt: »Ah, gut. Au! Vorsicht. Ja. Autsch! Pass auf!«
    Maika weiß, was sie tut. Hundertmal hat sie ihre Mutter nach Stürzen versorgt. Sie ist Profi und sieht sich selbst bei ihren ruhigen Handgriffen zu, als wären es nicht ihre Hände, sondern die ihrer gespaltenen Persönlichkeit oder eines Geistes namens Sister Maika. Sie fühlt sich innerlich so kalt wie der Waschlappen in ihren Händen und stellt erschüttert fest, dass Leif, obwohl er ein Opfer ist, nicht ihr leisestes Mitgefühl hat. Vermutlich verabscheue ich Opfer, weil ich selbst eins bin, denkt sie und sagt müde: »Ich muss los.«
    »Du bist doch erst vor einer halben Stunde gekommen.«
    Aha, er kann also doch reden,
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