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Lebe deine eigene Melodie

Lebe deine eigene Melodie

Titel: Lebe deine eigene Melodie
Autoren: Irmtraud Tarr
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jemand etwas dagegen haben?
    Staunen
    Wer kennt sie nicht, diese Ermahnungen, die uns das Staunen ausgetrieben haben: »Mund zu!« »Klappe halten!« »Gosche halten!« »Mund zu, sonst werden die Milchzähne sauer!« Das Staunen sei die »erste aller Leidenschaften«, so schrieb René Descartes. Wer noch staunen kann, macht den Mund auf und ruft »Ach« oder ein langgezogenes »Oh«. Ein geöffneter Mund macht das Gesicht weich, fast kindlich. Vielleicht haben wir öfters gehört, dass es ein bisschen dumm aussieht, weil Staunen etwas Kindliches hat. Aber
immerhin zeigt es, dass unsere Seele für plötzliche Überraschungen noch ansprechbar und anrührbar ist. Und uns so die Möglichkeit gibt, unser alltägliches Desinteresse wenigstens punktuell in mehr Berührbarkeit gegenüber dem Unbekannten, Ungewohnten und mehr Interesse auch am Selbstverständlichen zu verwandeln. Denn in der Tat, Staunen heißt, offen sein und sich berühren lassen von dem, was wir vorher nicht kannten. Den Dingen, die sich uns neu zeigen, ihren Spielraum lassen, ihnen Aufmerksamkeit schenken und nicht eingreifen. Das Gegenteil davon sind Bemerkungen, wie »das ist nichts für mich«, »das habe ich immer schon so gemacht«, »dafür bin ich zu alt«. Oder das kleingeistige »Wenn das jeder täte!«, was seine Wirkung nie verfehlt und erst recht zur Widerspenstigkeit anstachelt. Denn etwas, das alle tun, führt zur Stagnation, zum Stehenbleiben. Man denke bloß an den Verkehr. All diese Sätze haben eines gemeinsam: Sie begrenzen und behindern uns, weil sie von vornherein das Neue, die Überraschung ausschließen.
    Staunen ist der Jungbrunnen des Älterwerdens. Weil es ursprünglich und einfach ist. Jemand, der staunen kann, hat viel Ausstrahlung, aber eine, von der man nicht so genau weiß, was sie bedeuten soll. Ich sehe im Kern dieser Gabe einen kleinen Teufel, der kichert: »Ich traue meinen eigenen Augen und Ohren.« »Ich darf merken.« Er irritiert, entschleiert, entkrampft und provoziert, weil er sieht, dass der Kaiser nackt ist. Besonders Frauen fällt es schwer, ihrem eigenen Wissen zu trauen, weil unsere Neugier zugeschüttet wurde durch Informationsberge, durch die Beschränkung auf Zweckdenken und eine Sozialisation, die uns beibrachte, so unauffällig wie möglich zu leben und sich den Normen zu fügen.
    Schon Platon hatte vom Staunen als Anfang der Philosophie gesprochen. Wir alle haben schon solche Anfänge gemacht,
wenn wir in fremde Städte oder ferne Länder reisen und so etwas wie einen Kulturschock erleben, der unsere gewohnten Vorurteile zusammenbrechen lässt. Wir sehen das Selbstverständliche plötzlich mit neuen Augen und wundern uns. Solche Erfahrungen sind höchst produktiv, weil wir aus unserer gewohnten Lebenswelt herausfallen und unsere festgezurrten Schrauben etwas lockern müssen, um wenigstens zeitweise wieder die Kunst des Staunens zurückzuerobern.
    Ich gebe hierzu die Erfahrung einer 60-jährigen Biologielehrerin wieder: »Es gibt mich noch oder besser gesagt, es gibt mich. Denn die, als die ich mich nach Kolumbien aufgemacht habe, ist nicht zurückgekommen. Vier Wochen ›Härtetest‹ in einem so fremden, weit entfernten und nicht ganz unproblematischen Reiseland, in denen alle wirklich sehr gut Spanisch sprechen, liegen hinter mir. Die anfänglich noch fehlende Sprachkenntnis wurde durch enorme Geduld gegenüber meinen zunächst noch sehr rudimentären Sprachkenntnissen und mit Humor, Herzenswärme und einer nicht enden wollenden Hilfsbereitschaft mehr als tausendfach wettgemacht. Ich wurde mir in der Fremde bei wunderbaren, empathischen und einander und mich wertschätzenden Menschen erst einmal der Tatsache bewusst, dass ich seit Jahren auf solche Zeichen der Zuneigung, des Respekts und der Wertschätzung durch meinen Partner zunehmend verzichtet habe, und dass es nicht vorwiegend an mir gelegen hat, wenn ich diese Formen der Zuneigung nicht mehr gezeigt bekommen habe. Ich habe mich weiß Gott genug verbogen, um es meinem Partner Recht zu machen. Meine Gastgeber nahmen sich gegenseitig oft in den Arm, und verzichteten zugunsten der Gemeinsamkeit mit mir auf Alleingänge in der täglichen Lebensgestaltung, so wie es mir zuliebe seit vielen Jahren gegenüber nicht mehr getan worden
war. Dort in der Ferne habe ich gemerkt, dass das, was ich gemeint habe, verloren zu haben, in Wirklichkeit nur eine schöne Illusion war. Kann man etwas nachtrauern, das es gar nicht gegeben hat? Mir sind in Kolumbien viele
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