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Lebe deine eigene Melodie

Lebe deine eigene Melodie

Titel: Lebe deine eigene Melodie
Autoren: Irmtraud Tarr
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eingedrungen und bekämpfen sie mit teuren Medikamenten. Was uns krank macht, ist somit nicht Teil von uns selbst.
    Inzwischen geht man heute davon aus, dass Menschen krank werden in krankmachenden Beziehungen und gesunden in Beziehungen, in denen man gesund zu leben vermag. Insofern ist der Ratschlag von Clairvaux klug, weil er an das erinnert, was wir selbst umsetzen können, um zu gesunden. Deshalb steckt darin mehr als eine kuriose Lebenspraxis, die mich inspiriert, weil sie zur einfachen Erkenntnis führt: Älterwerden heißt, sich auf seine Würden besinnen. Sie schenken sich am ehesten jenen, die sich darauf besinnen, was unsere Grundwürden sind: Staunen, Hinschauen, Horchen, Schweigen, Lachen, Gehen. Es ist fast normal geworden,
dass wir diese Würden nicht mehr pflegen. Unglücklich dreinschauen, wegschauen, nicht zuhören, wenig lachen, steif und zielgerichtet rennen, so nach der Devise: Mund zu, Augen zu und Hintern zusammenkneifen. All das ist normal und nimmt im Alter zu, aber gesund ist es gewiss nicht. Sicher ist es ein Preis unserer Zivilisation und Sozialisation, aber es liegt an uns, ob wir uns darauf einlassen, mit dem Augenblick, mit unserem Körper und dem, was unsere Seele nährt, in Beziehung zu sein. Lebensvoll alt zu werden heißt, anwesend sein, sehen und hören, was ist, fühlen, was einem gut tut und ausdrücken, was einen erfüllt.
    Es gibt drei Würden, die ich für besonders wesentlich halte, unsere Seelengröße zu stärken. Neben »baden, weinen, beten« schlage ich folgende drei Würden vor: »Singen, gehen, staunen«. Alle drei existieren als eingeborenes Wissen in uns. Es geht nur darum, uns an das zu erinnern, was wir wissen. Das Ziel ist, wieder dort anzuknüpfen, wo unsere kreativen Fähigkeiten liegen, die sich ganz natürlich aus den verschiedenen Sinnen des Leibes und deren expressiven Vermögen entwickeln. In uns allen steckten einst kleine Künstler, die gestaunt, gelacht, gejauchzt, getobt haben. Die gemalt, komponiert, gesungen, gedichtet, geschauspielert, gekocht haben, bevor sie geprägt und konditioniert wurden. Auch wenn manches zum Verstummen gebracht wurde, so liegt es jetzt an uns, Sorge zu tragen, dass unser schöpferischer Ausdruck, unsere ursprüngliche Widerspenstigkeit, unser Eigensinn sich nicht verflüchtigen.
    Singen
    Es war an einem Geburtstagsfest, als die Frau des 85-jährigen Geburtstagskindes eine Rede hielt, und mit dem
Wunsch schloss: »Fangt wieder an, selbst zu singen«. Welch berührender, schöner Wunsch! Vor allem, wenn man bedenkt, dass die Zeiten, in denen ein paar Gesangesfreudige eine Party veranstalten konnten, oder als man vom Blatt, mehrstimmig oder mehrere Strophen Volkslieder sang, noch gar nicht so lange her sind. Viele singen heute nicht mal mehr unter der Dusche. Wir hören lieber, als dass wir selbst den Mund aufmachen. Die Profis singen für uns. War es wirklich so einfältig, dass wir noch vor ein paar Jahren mit Eltern und Verwandten voller Hingabe »Oh, du fröhliche« sangen?
    »Die Musik hat von allen Künsten den tiefsten Einfluss auf die Psyche. Ein Gesetzgeber sollte sie deshalb am meisten unterstützen.« Diese Sätze stammen nicht etwa von einem Musiktherapeuten, sondern von Napoleon. Und als Musiktherapeutin kann ich ihm nur aus tiefstem Herzen zustimmen. In kühnen Träumen stelle ich mir sogar vor, wie anders Bundestagsdebatten verlaufen würden, wenn man zu Beginn einen Bachschen Choral singen würde. Singen steht an prominenter Stelle sämtlicher Heilmittel, weil es unseren Körper direkt anspricht und bis in die Knochen und Zellen zum Schwingen bringt. Schon Kleinkinder nutzen das eigene Singen, um ihre Gefühle auszudrücken, um sich Mut zu machen, um sich zu trösten. Der Klang unserer Stimme ist das Barometer für unsere Stimmungen. Man kann unmittelbar die Stimmung eines Menschen erkennen. Leid, Traurigkeit, Wut und Zorn verändern die Stimme, sie wird kleiner, enger, stumpfer; während Freude oder Begeisterung die Stimme weiter, freier und heller machen.
    Singen bricht die Macht des Leides, weil sie eine Botschaft an uns selbst über uns selbst schenkt, die uns Macht verleiht: Wir können dagegen ansingen! Das kann jeder selbst ausprobieren, indem man beispielsweise seine Nöte als frei
erfundenen Blues singt: »Tu doch bloß nicht so schüchtern, sei doch nicht so bescheiden«, oder »Es braucht zwei Mal so lang, halb so gut auszusehen«, oder »Es ist fatal, dass ich älter werde«. Allein schon das
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