Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lebe deine eigene Melodie

Lebe deine eigene Melodie

Titel: Lebe deine eigene Melodie
Autoren: Irmtraud Tarr
Vom Netzwerk:
verfehlt. »Nur wer ein leeres Leben lebt und lebte, schreit immer noch nach mehr«, gab der Professor für Sozialgeschichte Arthur E. Imhof zu bedenken. Älterwerden erfordert den Mut, aus egozentrischen Denk- und Lebensmustern auszubrechen und sein Leben in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Kurzum: Was wir in der Kindheit empfangen, das tun wir im Alter für die anderen.
    »Wir müssen generativ werden«, sagt der Psychologe Heiko Ernst, und meint, dass im fortgeschrittenen Alter der Blick auf größere Einheiten der Welt und der Kulturgeschichte angesagt ist. Die Konzentration auf das Ganze hilft, die entscheidende Frage zu beantworten: Welche Spur möchte ich hinterlassen? Welche kulturelle Rolle möchte ich in diesem Leben übernehmen? Was sind meine spezifischen kulturellen Alterskompetenzen? Oder um für die Berliner
den bekannten »Hauptmann von Köpenick« sprechen zu lassen: »Wat haste jemacht aus deim Lebm, Willem Voigt?«
    Es geht darum, dass wir uns als Subjekt kultureller Entwicklung begreifen. Auch wer sich nicht durch eigene Kinder verewigt hat, kann auf vielfältige Weise seine Generativität leben, sei es als Berater, Mentor, Helfer, Förderer oder Vermittler für andere. Es ist unser Vorteil, neben ausreichenden materiellen Ressourcen, dass wir nun auch über das Kapital »sozialer Zeit«, Bildung, Erfahrung und Weitblick verfügen. Ein schönes Beispiel dafür bietet der ehemalige Unternehmer, der sein Leben völlig umgekrempelt hat und seine neue Einstellung als Vormund für psychisch Behinderte auslebt. Oder der Rechtsanwalt, der den Plan einer Weltreise kurz entschlossen verschob, um eine Gruppe Arbeitsloser bei der Eingliederung zu unterstützen. Die Zahl derer, die sich freiwillig unbezahlt für Projekte engagieren, wächst. Ebenso die Zahl der Frauen und Männer, die sich um Nachbarn, Kranke, Freunde und Enkelkinder kümmern. Die nicht nur ihren eigenen Interessen und Hobbys nachgehen, sondern sich bewusst mit ihren Gaben und Kenntnissen in die Gesellschaft einbringen.
    »Kultur« (lat. colere) bedeutet »Pflege, Veredelung, Vervollkommnung«, sie bildet sich durch Erinnerung an Gewesenes im Dreiklang mit Wissen, Verstehen und Weitergeben. Sie ist unser Versuch, etwas von Dauer zu schaffen, was uns überlebt. Die unbegreifliche Gewissheit, wenn es um unsere Endlichkeit geht, ist die Bedingung für Generativität. Wir schaffen, schöpfen und bewahren, weil wir sterblich sind. Deshalb betont auch C.G. Jung die kulturfördernde Rolle als altersspezifische Möglichkeit der Selbstentfaltung und Glückserfahrung dieser Lebensetappe. Weil wir eine gewisse, symbolische Form der Unsterblichkeit erlangen wollen, zeugen wir Kinder, malen wir Bilder, schreiben wir
Bücher und Tagebücher, spielen wir musikalische Werke auf Tonträger ein, sammeln wir Antiquitäten, bauen wir Häuser, gründen Stiftungen und Vereine. Es ist wohl unsere unbewusste Hoffnung, dass etwas von uns weiterleben soll, wenn wir vorausgegangen sind. Und es ist die Dankbarkeit. Wir wollen uns selbst verschenken. Etwas zurückgeben, weil wir wissen, dass wir den bisher zurückgelegten Weg nicht uns allein verdanken, sondern den wachen Augen und den warmen Hände der anderen. Auf der Höhe unseres Wissens wollen wir mit warmen Händen zurückgeben, um sie und auch uns selbst in lebendiger Erinnerung zu bewahren.
    Die Idee, ihre Erfahrungen, ihre Tradition und Werte weiterzugeben, ist eine uralte Idee der Menschheit. Unsere Vorfahren saßen bei Dunkelheit am Lagerfeuer und erzählten sich Geschichten, gaben Erfahrungen, Lieder und Weisheiten weiter, und diese Weisheiten halfen den Jungen zu überleben. Und das ist letztlich die Grundlage unserer Kultur. Auch wir wollen denen nützen, die nach uns kommen, um diese Welt ein wenig besser zu hinterlassen.
    Die Frage ist nur: Wie kann Generativität heute aussehen? Eine Möglichkeit sehe ich darin, den Kunst- und Gedankenvorrat der Vergangenheit zugänglich zu halten und zwar auf einem hohen Niveau, der Komplexität und Bildung voraussetzt. Als Organistin spreche ich von einer Kunst, die nicht zuallererst auf den Massenabsatz zielt. Jeder, der aus eigener Erfahrung weiß, dass man ein Bachsches Oratorium viel tiefer, genauer und immer wieder hören kann, im Vergleich beispielsweise zu einem Elton-John-Song, wird verstehen, dass es um einen Anspruch geht, den unsere Kultur nicht verlieren darf. Das Wunder der Künste besteht darin, dass die Popkultur letztlich von den Gedanken und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher