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Lebe deine eigene Melodie

Lebe deine eigene Melodie

Titel: Lebe deine eigene Melodie
Autoren: Irmtraud Tarr
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selbst. Ein Selbst, das sich nun der Endgültigkeit bewusst wird und zu begreifen beginnt, dass die unaufhaltsamen, irreversiblen körperlichen Prozesse nicht nur Übel sind, sondern auch dazu beitragen, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden. Diese Zuwendung zum eigenen Selbst geht bei vielen auch mit seiner Relativierung einher. Man muss nicht mehr der Macher sein, und man muss auch nicht mehr alles auf sich beziehen. Damit will ich aber nicht die Trägheit, die Wurstigkeit oder die Schlaffheit loben, sondern eher die weise Milde, die dem Alter gehört. Sie zeichnet die Dinge weicher, gnädiger. Weiche Berührbarkeit ist ihr Gütesiegel, statt Verbissenheit, sich durchzusetzen, dran zu bleiben, alles in den Griff zu bekommen. In ihr liegt eine neue, nur im Alter mögliche Chance.
    Ist es nun Nostalgie oder ein Zeichen vorzeitigen Altwerdens, dass man sich hin und wieder den Luxus erlaubt, in Kindheitserinnerungen zu schwelgen? Eigentlich ist es eine harmlose Frage, aber sie kann endzeitliche Gefühlsabgründe aufreißen, weil man realisiert, dass Lebenszeit jetzt auch als die Zeit von der Gegenwart bis zum Tod gemessen werden will. Andererseits machen aber die Dummheiten, die einem jetzt entwischen, kaum mehr Angst. Man kann sich sogar ein mitfühlendes Lächeln für sie leisten, weil man toleranter und weiser geworden ist. Das Gedächtnis lässt nach, das sagt man durchaus gut gelaunt in fröhlicher Runde. Es gehört ja auch zu den Allerweltsweisheiten, die man so schnell dahinsagt. Aber allein die vielen Witze, die es zum Thema »Gedächtnis« gibt, deuten darauf hin, dass hier die nackte Angst am Werk ist. »Zuerst vergisst du Namen, dann Gesichter,
dann vergisst du, den Reißverschluss hochzuziehen, und dann vergisst du, ihn runterzuziehen.« Scheinbar kann man den Altersabbau des Gedächtnisses nur ertragen, wenn man ihn in einen Witz verwandelt, um sich zu versichern: So will ich nicht enden. Denn in der Tat ist es verwirrend, sich bei wachem Geist der Fehlerhaftigkeit des Gedächtnisses zu fügen. Wie kann mir bloß plötzlich dieser oder jener Name entfallen? Ein Begriff abhanden kommen? Obwohl ich schneller als viele denken konnte, plötzlich verlangsamt reagieren? Diese erkennbaren Anzeichen schocken mehr, als man es wahrhaben möchte.
    Aber es gibt auch eine gute Nachricht. Wir verdanken sie der Forschung zum Altern: Nach Paul Baltes (1994) ist die kristalline Intelligenz eher altersstabil und auf- und ausbaufähig. Im Unterschied zur biologisch bestimmten fluiden Intelligenz, die offensichtlich dem Altersabbau ausgesetzt ist und die schlussfolgernde, logische Denkleistungen bei hoher Reaktionsgeschwindigkeit umfasst, ist die kristalline Intelligenz eher wissens- und erfahrungsabhängig mit intuitivem Blick für das Wesentliche. Die Einsicht in Lebenszusammenhänge ist ihre Domäne, deswegen sind ihre Urteile zu Fragen des Lebens komplexer, vielschichtiger als die zielorientierten, rigideren, strikteren Lösungsstrategien des früheren Alters. Das klingt fast nach einem zweiten klügeren Leben, das man jetzt beginnt. Zwar garantiert ein gewisses Alter noch keine Weisheit, doch ist die Weisheit, wie Paul Baltes (1989) meint, ein mit dem Alter verknüpftes Phänomen.
    Das Akzeptieren von Vorläufigem, Unvermeidlichem, Ungewissem hat mit Altersweisheit zu tun, aber es gibt noch mehr Kriterien, die gerade in dieser Lebensetappe »vor Torheit schützen«, wie es das beliebte Alterssprichwort sagt. Früher hieß es, man solle bedacht und vernünftig sein,
heute würde ich eher sagen: Unruhe bewahren. Damit ist die Eigenschaft gemeint, die sich nicht auf das Ruhekissen verbannen lässt, die vielmehr ihre Kritikfähigkeit und Eigenständigkeit pflegt und weiterentwickelt. Die den Mut aufbringt, eigen und, wenn es sein muss, quer zu denken und sich nicht von außen diktieren oder manipulieren lässt. Die gegen das propagierte weichspülende Altersbild angeht, ohne sich gehen zu lassen. Die, wie der schmackhafte Lachs, gegen den Strom schwimmt und selbst entscheidet, wann sie sich vom Strom treiben lassen will. Ein Begegnung im Zug hierzu: Ein Herr saß mir gegenüber und erzählte, dass alle seine Freunde Aktienfonds angelegt hatten. Warum er es nicht täte, daraufhin meinte er: »Sparen, das ist noch nie meine Sache gewesen. Aber es gibt etwas, das ich viel wichtiger finde: Nichts vergeuden.«
    Gegen den Strom zu schwimmen wäre beispielsweise das Ernstnehmen des Wunsches nach Phasen des Alleinseins.
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