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Lea

Titel: Lea
Autoren: Pascal Mercier
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jetzt für mich sein werde.
    Ich hätte mich gefreut über die Fragen, wären sie nicht so distanziert gewesen. Detached nannte Liliane das. So waren auch sein Händedruck beim Abschied und sein abwesendes Nicken, als ich von einem weiteren Spaziergang sprach. Hatte er bereits abgeschlossen? Oder ist das nur der Schatten, den das spätere Wissen auf das frühere Geschehen wirft?
    Im Bus nach Hause stellte ich mir die Reisfelder der Camargue vor und die ziehenden Wolken. Wären wir nur dort unten geblieben, dachte ich, und hätten uns treiben lassen, zwei Schatten im Gegenlicht. Ich druckte die Fotos aus und lehnte das Bild von Martijn, auf dem er trinkt, an die Lampe.
    Am Tag darauf schneite es. Ich dachte an seine Fahrten ins Oberland. Ich hatte Angst und rief immer wieder an, vergeblich. Am nächsten Morgen blätterte ich in der Zeitung. Ein roter Peugeot mit Berner Kennzeichen war auf einer Straße im Seeland auf die Gegenfahrbahn geraten und frontal auf einen Lastwagen geprallt. Der Fahrer war sofort tot gewesen. »Es war eng, er muß gebremst haben, um mich vorbeizulassen, dabei kam er ins Rutschen«, hatte der Fahrer ausgesagt. »Er saß merkwürdig ruhig hinter dem Steuer, er muß vor Schreck wie gelähmt gewesen sein.«
    Den ganzen Tag sah ich seine Hände vor mir: zitternd am Pferdekopf, über dem Steuer schwebend, auf der Bettdecke.
    Am Grab war ich mit Agnetha allein. »Martijn macht keine Fahrfehler«, sagte sie.
    Es war trotziger Stolz in der Stimme, und er reichte weit übers Autofahren hinaus. Schnee habe er geliebt, sagte sie. Schnee und das Meer, am besten beides zusammen.
34
    VOM FRIEDHOF ging ich zu dem Haus, in dem Marie Pasteur gewohnt hatte. Das Messingschild hing nicht mehr, man sah nur noch die Spuren am schmiedeeisernen Tor. Ich blickte die Straße entlang, die Lea nach ihrem letzten Besuch irrtümlich genommen hatte und die im Geist des Vaters zu einer endlosen, ausbleichenden Geraden geworden war.
    Die Metallspitze auf dem Treppenpfosten in Stockholm war Van Vliet mit der Heftigkeit eines rasenden Zooms entgegengekommen. Das Bild begann mich zu verfolgen. Ich ging ins Kino, um es zu besiegen. Die Filmbilder halfen, aber ich wollte diese F ilmbilder nicht sehen und ging bald.
    Danach mußte ich fahren, das Rollen spüren, das machte es leichter. Ich fuhr im Bus kreuz und quer durch die Stadt, vom einen Ende zum anderen und zurück, dann dasselbe auf der nächsten Strecke. Ich dachte an Thelma and Louise und die beiden Frauenhände, die Van Vliet in ihrer tollkühnen Anmut geliebt hatte. Wenn der Bus sich leerte, schloß ich die Augen und stellte mir vor, ich säße am Steuer und führe bis nach Hammerfest und Palermo auf der Suche nach diesen Bildern einer letzten Freiheit. Mit jedem Bus war ich weniger sicher, daß ich nur zu den Bildern fuhr. Immer mehr kam es mir vor, als steuerte ich den Bus auf den Rand des Canyons zu.
     
    Während ich zu Hause vergeblich auf den Schlaf wartete, spürte ich, daß ich mit meinem Leben nicht einfach weitermachen konnte. Es gibt Unglück von einer Größe, daß es ohne Worte nicht zu ertragen ist. Und so begann ich in der Morgendämmerung aufzuschreiben, was ich erfahren hatte seit jenem hellen, windigen Morgen in der Provence.

 
    Über den Autor
     
    Pascal Mercier
     
    Daten, Fakten, Jahreszahlen
     
    Pascal Mercier, 1944 in Bern geboren, lebt in Berlin. Nach Perlmanns Schweigen (1995) und Der Klavierstimmer (1998) wurde sein Roman Nachtzug nach Lissabon (Carl Hanser Verlag 2004) einer der großen Bestseller der vergangenen Jahre und in zahlreiche Sprachen übersetzt. 2007 folgte die Novelle Lea. Pascal Mercier wurde 2006 mit dem Marie-Luise-Kaschnitz-Preis ausgezeichnet und 2007 in Italien mit dem Premio Grinzane Cavour für den besten ausländischen Roman geehrt. 2007 erhielt er die Lichtenberg-Medaille der Universität Göttingen.
    Unter seinem bürgerlichen Namen Peter Bieri veröffentlichte er, ebenfalls bei Hanser, Das Handwerk der Freiheit . Über die Entdeckung des eigenen Willens (2001).
    In Deutschland wurde Mercier 2006 mit dem Marie-Luise-Kaschnitz-Preis ausgezeichnet.
     
    Bibliographie
     
    Im Carl Hanser Verlag sind von Pascal Mercier erschienen
    2004 Nachtzug nach Lissabon. Roman
    2007 Lea. Novelle
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