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Lea

Titel: Lea
Autoren: Pascal Mercier
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und im Traum tat er es dann auch. Er näherte sich mit den Lippen dem Mund eines Mädchens, das erschrocken zurückwich. »Just an idea, you know« , sagte Courtenay, »and not much of an idea, either.«
    »Ja, warum nicht«, sagte ich jetzt.
    Van Vliet rief den Kellner und bestellte zwei Pernod. Ich winkte ab. Ein Chirurg trinkt morgens nicht; auch nicht, nachdem er aufgehört hat. Ich setzte mich an seinen Tisch.
    »Van Vliet«, sagte er, »Martijn van Vliet«. Ich gab ihm die Hand. »Herzog, Adrian Herzog.«
    Er habe hier für ein paar Tage gewohnt, sagte er, und nach einer Pause, in der sein Gesicht älter und dunkler zu werden schien, fügte er hinzu: »in Erinnerung an … an früher«.
    Irgendwann auf unserer Fahrt würde er mir die Geschichte erzählen. Es würde eine traurige Geschichte sein, eine Geschichte, die weh tat. Ich hatte das Gefühl, ihr nicht gewachsen zu sein. Ich hatte genug mit mir selbst zu tun.
    Ich blickte die Platanenallee entlang, die aus dem Ort hinausführte, und betrachtete die matten, sanften Farben der winterlichen Provence. Ich war hierher gefahren, um meine Tochter zu besuchen, die an der Klinik in Avignon arbeitete. Meine Tochter, die mich nicht mehr brauchte, schon lange nicht mehr. »Frühzeitig aufgehört? Du?« hatte sie gesagt. Ich hatte gehofft, sie würde mehr wissen wollen. Doch dann war der Junge von der Schule nach Hause gekommen, Leslie ärgerte sich über die Verspätung des Kindermädchens, denn sie hatte Nachtdienst, und dann standen wir auf der Straße wie zwei Menschen, die sich getroffen hatten, ohne sich zu begegnen.
    Sie sah, daß ich enttäuscht war. »Ich besuche dich«, sagte sie, »jetzt hast du ja Zeit!« Wir wußten beide, daß sie es nicht tun würde. Sie ist seit vielen Jahren nicht mehr in Bern gewesen und weiß nicht, wie ich lebe. Überhaupt wissen wir nur wenig voneinander, meine Tochter und ich.
    Am Bahnhof von Avignon hatte ich einen Wagen gemietet und war aufs Geratewohl losgefahren, drei Tage auf kleinen Straßen, Übernachtung in ländlichen Gasthöfen, einen halben Tag am Golf von Aigues Mortes, immer wieder Sandwich und Kaffee, abends Somerset Maugham bei schummrigem Licht. Manchmal konnte ich den Jungen, der damals plötzlich vor dem Auto aufgetaucht war, vergessen, aber nie länger als einen halben Tag. Ich schreckte aus dem Schlaf auf, weil mir der Angstschweiß über die Augen lief und ich hinter dem Mundschutz zu ersticken drohte.
    »Mach du es, Paul«, hatte ich zum Oberarzt gesagt und ihm das Skalpell gereicht.
    Als ich nun im Schrittempo durch die Dörfer fuhr und froh war, wenn wieder freie Strecke kam, sah ich manchmal Pauls helle Augen über dem Mundschutz, der Blick ungläubig, fassungslos.
    Ich wollte Martijn van Vliets Geschichte nicht hören.
    »Ich will heute noch in die Camargue, nach Saintes-Maries-de-la-Mer«, sagte er jetzt.
    Ich sah ihn an. Wenn ich noch länger zögerte, würde sein Blick hart werden wie der von Tom Courtenay, wenn er vor dem Direktor stand.
    »Ich fahre mit«, sagte ich.
    Als wir losfuhren, hatte der Wind aufgehört, und hinter der Scheibe wurde es warm. »La Camargue, c’est le bout du monde« , sagte Van Vliet, als wir hinter Arles nach Süden abbogen. »Das pflegte Cécile zu sagen, meine Frau.«
2
    BEIM ERSTEN MAL habe ich mir nichts dabei gedacht. Als Van Vliet die Hände das zweite Mal vom Steuer nahm und sie wenige Zentimeter davon entfernt hielt, fand ich es merkwürdig, denn wieder tat er es, als ein Lastwagen entgegenkam. Doch erst beim dritten Mal war ich sicher: Es war ein Sicherheitsabstand. Er sollte die Hände davor bewahren, das Falsche zu tun.
    Für eine Weile kamen keine Lastwagen mehr. Rechts und links Reisfelder und Wasser, in dem sich die ziehenden Wolken spiegelten. Die ebene Landschaft ließ das Gefühl einer befreienden Weite entstehen, es erinnerte mich an die Zeit in Amerika, als ich bei den besten Chirurgen das Operieren lernte. Sie gaben mir Selbstvertrauen und lehrten mich, der Angst Herr zu werden, die hervorzubrechen drohte, wenn der erste Schnitt durch die unversehrte Haut zu legen war. Als ich mit Ende dreißig in die Schweiz zurückkehrte, hatte ich halsbrecherische Operationen hinter mir, ich war für die anderen der Inbegriff ärztlicher Ruhe und Zuversicht, ein Mann, der nie die Nerven verlor, undenkbar, daß ich meinen Händen eines Morgens das Skalpell nicht mehr zutrauen würde.
    In der Ferne war ein herankommender Lastwagen zu erkennen. Van Vliet bremste scharf
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