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Lea

Titel: Lea
Autoren: Pascal Mercier
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    WIR SIND UNS an einem hellen, windigen Morgen in der Provence begegnet. Ich saß vor einem Café in Saint-Rémy und betrachtete die Stämme der kahlen Platanen im bleichen Licht. Der Kellner, der mir den Kaffee gebracht hatte, stand unter der Tür. In seiner abgetragenen roten Weste sah er aus, als sei er das ganze Leben lang Kellner gewesen. Ab und zu zog er an der Zigarette. Einmal winkte er einem Mädchen zu, das quer auf dem Rücksitz einer knatternden Vespa saß, wie in einem alten Film aus meiner Schulzeit. Nachdem die Vespa verschwunden war, blieb das Lächeln noch eine Weile auf seinem Gesicht. Ich dachte an die Klinik, in der es nun schon die dritte Woche ohne mich weiterging. Dann sah ich wieder zu dem Kellner hinüber. Sein Gesicht war jetzt verschlossen und der Blick leer. Ich fragte mich, wie es gewesen wäre, sein Leben zu leben statt des meinen.
    Martijn van Vliet war zuerst ein grauer Haarschopf in einem roten Peugeot mit Berner Kennzeichen. Er versuchte einzuparken und stellte sich, obwohl Platz genug war, ungeschickt an. Die Unsicherheit beim Einparken wollte nicht zu dem großen Mann passen, der nun ausstieg, sich mit sicherem Schritt den Weg durch den Verkehr bahnte und auf das Café zukam. Er streifte mich mit einem skeptischen Blick aus dunklen Augen und ging hinein.
    Tom Courtenay , dachte ich, Tom Courtenay im Film The Loneliness of the Long Distance Runner . An ihn erinnerte mich der Mann. Dabei sah er ihm gar nicht ähnlich. Es waren der Gang und der Blick, in denen sich die beiden Männer glichen – die Art und Weise, in der sie in der Welt und bei sich selbst zu sein schienen. Der Direktor des Colleges haßt Tom Courtenay, den schlaksigen Jungen mit dem verschlagenen Grinsen, doch er braucht ihn, um gegen das andere College mit seinem neuen Starläufer zu gewinnen. Und so darf er während der Unterrichtszeit laufen. Er läuft und läuft durch das farbige Herbstlaub, die Kamera auf dem Gesicht mit dem glücklichen Lächeln. Der Tag kommt, Tom Courtenay läuft allen davon, der Rivale sieht aus wie gelähmt, Courtenay biegt in die Zielgerade ein, Großaufnahme des Direktors mit dem feisten Gesicht, das im vorweggenommenen Triumph glänzt, noch hundert Meter bis zum Ziel, noch fünfzig, da wird Courtenay aufreizend langsam, bremst ab, bleibt stehen, Ungläubigkeit auf dem Gesicht des Direktors, jetzt erkennt er die Absicht, der Junge hat ihn in der Hand, das ist seine Rache für all die Schikanen, er setzt sich auf die Erde, schüttelt die Beine aus, die noch lange weitergelaufen wären, der Rivale läuft durchs Ziel, Courtenays Gesicht verzieht sich zu einem triumphierenden Grinsen. Dieses Grinsen, ich mußte es immer wieder sehen, in der Mittagsvorstellung, nachmittags, abends und samstags in der Spätvorstellung.
    Ein solches Grinsen könnte auch auf dem Gesicht dieses Mannes liegen, dachte ich, als Van Vliet herauskam und sich an den Nebentisch setzte. Er steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und schirmte die Flamme des Feuerzeugs mit der Hand gegen den Wind ab. Den Rauch behielt er lange in der Lunge. Beim Ausatmen warf er mir einen Blick zu, und ich war erstaunt, wie sanft diese Augen blicken konnten.
    »Froid« , sagte er und zog die Jacke zu. »Le vent.« Er sagte es mit dem gleichen Akzent, mit dem auch ich es sagen würde.
    »Ja«, sagte ich in Berner Mundart, »das hätte ich hier nicht erwartet. Nicht einmal im Januar.«
    Etwas in seinem Blick veränderte sich. Es war keine angenehme Überraschung für ihn, hier einem Schweizer zu begegnen. Ich kam mir aufdringlich vor.
    »Oh, doch«, sagte er jetzt, auch in Mundart, »so ist es oft.« Er ließ den Blick über die Straße gleiten. »Ich sehe kein Schweizer Kennzeichen.«
    »Ich bin mit einem Mietwagen hier«, sagte ich. »Fahre morgen mit der Bahn nach Bern zurück.«
    Der Kellner brachte ihm einen Pernod. Eine Weile sagte keiner von uns etwas. Die knatternde Vespa mit dem Mädchen auf dem Rücksitz fuhr vorbei. Der Kellner winkte.
    Ich legte das Geld für den Kaffee auf den Tisch und schickte mich an zu gehen.
    »Ich fahre morgen auch zurück«, sagte Van Vliet jetzt. »Wir könnten zusammen fahren.«
    Das war das letzte, was ich erwartet hatte. Er sah es.
    »Nur so eine Idee«, sagte er, und ein sonderbar trauriges, um Vergebung bittendes Lächeln huschte über seine Züge; jetzt war er wieder der Mann, der so ungeschickt eingeparkt hatte. Vor dem Einschlafen dachte ich, daß auch Tom Courtenay so lächeln könnte,
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