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Lea

Titel: Lea
Autoren: Pascal Mercier
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Kopf an seiner Schulter. Das öffnete die Schleusen. In einer unbeholfenen Umarmung verschlungen, ließen beide ihren Tränen freien Lauf.
    Danach wartete er auf ihren Anruf. Er kam nicht. Er ließ es bei ihr klingeln, immer wieder. Er hätte gerne gewußt, wie Saint-Rémy für sie gewesen war. Damit diese Zeit nicht weiß und leer blieb, was sie betraf. Und damit sich die Bilder von ihr hinter dem Brennholz und auf der Mauer, die Arme um die Knie geschlungen, die ihm zu Ikonen der Einsamkeit und Verzweiflung geronnen waren, verflüssigen und zu Episoden werden könnten, die in der Vergangenheit verwischten und ihren Schrecken verloren.
    Der Anruf aus dem Krankenhaus kam in den frühen Morgenstunden. Vor drei Tagen hatte ihr eine Schwesternschülerin aus dem Wohnheim die damaligen Zeitungsberichte über den Prozeß gezeigt. Danach war sie wie immer zur Arbeit erschienen, wortkarg, aber das war sie eigentlich immer. Jetzt lag sie da, ihr weißes Gesicht unwiderruflich still wie damals das Gesicht von Cécile.
    »Seither«, sagte Van Vliet, »ist alles leer. Leer und ausgeblichen.«
    Er wartete, ohne zu wissen, worauf. Schließlich lieh er sich von Agnetha Geld, um diese Reise zu machen.
32
    AUF DER FAHRT NACH BERN dachte ich ständig an die Worte, die er hinzugefügt hatte: »Und nun bin ich Ihnen begegnet.«
    Es konnte eine dankbare Feststellung sein, weiter nichts. Und es konnte mehr sein: die Ankündigung, daß er sich an diesem Rettungsanker festhalten und weiterleben wollte.
    Wie schon die ganzen Tage, hatte ich Angst vor der Ankunft. Würde sie die Entscheidung zwischen den beiden Deutungen bringen? Hätte ich die Kraft und Festigkeit, sein Anker zu sein? Ich spürte, wie ich Paul das Skalpell gereicht hatte. Konnte so einer der Anker für einen anderen sein – für einen, der seinen Händen auch nicht mehr traute?
    Wir hielten bei meiner Wohnung. Wortlos betrachtete Van Vliet die elegante Fassade. Wir gaben uns die Hand. »Wir hören voneinander«, sagte ich. Dürre Worte nach allem, was gewesen war. Doch auch auf der Treppe fielen mir keine besseren ein.
    Ich zog die Jalousien hoch und öffnete die Fenster. Dabei sah ich ihn. Er war wenige Häuser weitergefahren und hatte geparkt. Jetzt saß er ohne Licht in der Dämmerung. La nuit tombe. Er liebte diese Worte, sie verbanden ihn noch immer mit Cécile. Es gab keine Lastwagen, die er zu fürchten hatte. Er wollte nicht nach Hause. Ich dachte daran, wie ihm die Leere entgegengekommen war, als er in der Zeit nach Leas Abreise die Treppen hochstieg.
    Eigentlich würde ich doch gerne sehen, wo er wohne, sagte ich, als er das Fenster herunterkurbelte. »Es ist nicht eine Wohnung wie die Ihre«, sagte er, »aber das wissen Sie ja.«
    Über die Schäbigkeit der Räume erschrak ich dann doch. Er hatte nicht das Geld gehabt, sie neu streichen zu lassen, es gab Spuren früherer Bilder an den Wänden. In der Küche Rohre, die aus der Wand traten und anderswo wieder hineinführten, abblätternde Farbe, ein vorsintflutlicher Herd. Nur die Sitzmöbel und Teppiche erinnerten an die Wohnung eines gut verdienenden Wissenschaftlers. Und die Bücherregale. Ich suchte und fand sie, die Bücher über Louis Pasteur und Marie Curie. Er sah meinen Blick und lächelte dünn. Fachliteratur bis unter die Decke. Ein Gestell mit Schallplatten. Viel Bach mit Yitzhak Perlman. »Das war für Lea der Maßstab«, sagte er. Die Platte aus Cremona mit den verschiedenen Geigenklängen. Miles Davis. In einer Ecke ein Geigenkasten. »Daran haben sie nicht gedacht. Ich könnte sie dem Geigenbauer in St. Gallen wieder verkaufen. Doch dann bliebe ja gar nichts mehr von ihr.«
    Er stand wie gelähmt in der eigenen Wohnung, unfähig, sich auch nur zu setzen. Als er Lea gesehen hatte, wie sie still am Fenster ihres Zimmers in Saint-Rémy stand und ins Land hinausblickte, hatte er gedacht, daß sie sich ganz und gar fremd fühlte auf diesem Planeten. Daran mußte ich denken, als ich ihn da stehen sah.
    Ich legte Miles Davis auf. Er löschte das Licht. Als der letzte Ton verklungen war, stand ich im Dunkeln auf, berührte ihn an der Schulter und ging ohne Worte aus der Wohnung. Nie habe ich größere Nähe erlebt.
33
    ZWEI TAGE DANACH rief er an. Wir gingen an der Aare entlang, wortlose Erinnerung an den Strand von Saintes-Maries-de-la-Mer und an das Ufer des Genfer Sees. Er stellte Fragen nach meinem Beruf, nach Leslies Tätigkeit in Avignon, und schließlich, zögernd, erkundigte er sich, wie das Leben
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