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Lea

Titel: Lea
Autoren: Pascal Mercier
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hatten sich zugewinkt, knapp nur, fast verschämt. Auf dem Perron hatte Van Vliet die absonderliche Empfindung gehabt: Jetzt ist auch Neuchâtel leer.
    Er mied Krompholz. Doch dann ergab es sich, daß er Katharina Walther auf der Straße traf. »Mein Gott«, sagte sie immer wieder, »mein Gott.« Er sah sie nicht an, sprach auf ihre Schuhe hinunter.
    »Sie hatten …«, sagte er am Schluß.
    »Aber das konnte doch niemand ahnen!« unterbrach sie ihn.
    Zum Abschied umarmte sie ihn, ihr Chignon wischte über seine Nase.
    Viel später, als sie von der Veruntreuung erfahren hatte, begegnete er ihr wieder. Sie verhinderte, daß er an ihr vorbeischlüpfte. Es war ein sonderbarer Blick, den sie auf ihn richtete, er sollte sich lange Zeit daran festhalten.
    »Als ich es las: Mein Gott, dachte ich, er hat alles für sie getan, wirklich alles . Ich … ich hätte auch gern jemanden gehabt, der … Ich spüre sie noch heute in der Hand, die del Gesù.«
    »Ich auch«, hatte er gesagt.
    Danach hatten sie sich erst auf dem Friedhof wiedergesehen.
29
    ETWAS ÜBER EIN JAHR ließ es sich noch verheimlichen. Van Vliet verschleppte Projekte, sabotierte Experimente, zögerte Anschaffungen hinaus und ließ unbezahlte Rechnungen liegen. Wenn die Geldgeber sich meldeten, log er hemmungslos. Als er davon erzählte, bekam er dieses Gesicht, das ich inzwischen kannte: der Spieler, der Junge, der Geldfälscher hatte werden wollen. Gezielte Obstruktion, geplanter Pfusch – es war ein Tanz über dem Abgrund gewesen. In den Nächten zeigte sich der Abgrund. Trotzdem hatte es ihm auch gefallen. Ein Hauch dieser Lust war sogar jetzt in der Stimme. Als ich es spürte, dachte ich an die inneren Schichten und Plateaus, von denen er bei Lea gesprochen hatte.
    Ich wünschte, Martijn, der Spieler in dir hätte dich gerettet. Hätte in dir eine Plattform aufgebaut, auf der du hättest weiterleben können.
    Mehr Angst als Lust war im Spiel, als Van Vliet merkte, daß ihm Ruth Adamek auf den Fersen war. Als er einmal überraschend zu ihr ins Zimmer trat, sah er, daß sie Paßwörter für sein Forschungskonto ausprobierte. IRENRAUG stand auf dem Bildschirm. Als Schüler hatte er alle Rekorde gebrochen, wenn es darum ging, Wörter rückwärts zu lesen. Früher oder später würde sie es so auch mit DELGESÙ probieren. Das würde nicht reichen. Aber einmal begonnen, würde sie die Buchstaben weiter und weiter vertauschen. So hatten sie es damals gemacht, im ersten Jahr ihrer Zusammenarbeit, als es galt, ein vergessenes Paßwort zu rekonstruieren, bei dem sie nur noch den Ausgangspunkt wußten. Es war Sommer gewesen, sie hatte mit kurzem Rock auf seiner Schreibtischkante gesessen. Das Buchstabenspiel war zu einem Wettrennen geworden, das sie gewonnen hatte. Aus dem Augenwinkel hatte er gesehen, wie sie sich langsam mit der Zunge über die Lippen fuhr. Jetzt oder nie. Er hatte angestrengt auf den Bildschirm geblickt, bis der Moment vorbei war. »Übrigens«, hatte sie am nächsten Tag gesagt, »du bist ein lausiger Verlierer.«
    Er veränderte das Paßwort zu ANOMERC , später wurde daraus CRANEMO , doch das lag vom Klang her zu dicht an CREMONA , und so wurde es zu OANMERC .
    »Warum mußte ich beim Thema bleiben, warum habe ich nicht etwas ganz Entlegenes genommen! Oder wenigstens BUIO , OIUB oder so, auf das sie unmöglich kommen konnte.«
    »Was wir über Zwangshandlungen wissen«, sagte Agnetha, »ist, daß ihnen der verdeckte Wunsch zugrunde liegt, das Befürchtete möge eintreten.«
    Das fand er oberschlau. Doch es blieb die Verwunderung darüber, daß er bei dem verräterischen Thema geblieben war, als klebe er daran.
    Vor drei Jahren dann kam der Brief, in dem die Geldgeber eine detaillierte Abrechnung verlangten, sonst sähen sie sich außerstande, die zugesagten Gelder weiterhin fließen zu lassen. »Ich habe ihn aus Versehen aufgemacht«, sagte Ruth Adamek, als sie ihm den Brief überreichte. Er sah auf den Absender. Es war der Showdown. »Leg ihn dorthin, irgendwo«, sagte er nonchalant und ging.
    Im Bahnhof stand er eine Weile auf dem Fleck, von dem aus sie Loyola de Colón zugehört hatten. Fünfzehn Jahre waren seither verflossen. Mit dem Zug fuhr er ins Oberland. Es sah nach Schnee aus, doch es fiel keiner. Auf der Rückfahrt fragte er sich, was er getan hätte. Sie war beim Maghrebiner, hinter dem Brennholz, was machte es da schon für einen Unterschied. Der Arzt hatte ihn stumm angesehen, als er fragte, ob sich Lea nach ihm erkundigt habe.
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