Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Lea

Titel: Lea
Autoren: Pascal Mercier
Vom Netzwerk:
nach Internat und Instrument, und jetzt …«
    Ich sei froh, daß wir wieder öfter miteinander sprächen, sagte ich.
28
    OHNE LEA WAR DIE WOHNUNG LEER , und im Treppenhaus kam sie Van Vliet manchmal entgegen, diese Leere. Dann drehte er um und ging essen. Und trinken.
    Auch die Stille hielt er kaum aus. Trotzdem hörte er keinen Ton Musik, ein ganzes Jahr lang. Filme waren ebenfalls unmöglich, sie hatten Musik. Den Fernseher ließ er meist ohne Ton laufen. Die Leere und die Stille – das spürte er, ohne daß er es hätte erklären können – waren dem Ausbleichen verwandt, in das Lea nach dem letzten Besuch bei Marie hineingelaufen war und das er wieder vor sich gesehen hatte, als er durch das nächtliche Cremona zu Signor Buio ging. Manchmal blich jetzt auch sein Büro aus, meistens wenn die Dämmerung einsetzte. Das war vom Licht her gar nicht möglich, aber es war trotzdem so. Wenn in solchen Momenten jemand hereinkam, hätte er schießen mögen. Das war nur eines von vielen Dingen, durch die er sich fremd wurde. Langlauf im Oberland tat gut. Doch er fuhr nur hin, wenn er sicher war: Er würde es nicht tun. Es war ausgeschlossen, Lea im Stich zu lassen. Trotz des Maghrebiners. Auch wegen ihm.
    Beim Frühstück merkte man Van Vliet von dem, was in der Nacht gewesen war, nichts mehr an. Er war frisch rasiert, trug einen dunkelblauen Seemannspullover und sah darin gesund und sportlich aus, wie ein Urlauber, leicht gebräunt. Überhaupt nicht wie einer, der das Steuer lieber einem anderen überließ. Er hatte das entspannte Gesicht von jemandem, der den Sorgen im tiefen Schlaf hatte entfliehen können. Ich wußte nicht, ob das Schlafmittel auch die Erinnerung an den Zusammenbruch weggespült hatte. Ob er noch wußte, wie ich ihn gehalten hatte.
    Nachher saßen wir wieder am See. Heute würden wir fahren, das spürten wir beide. Aber erst, wenn er mit der Erzählung in der Gegenwart angekommen war. Über dem See lag ein Winterlicht ohne den Glanz und das Versprechen der Provence. Ein Licht, in dem grauer Schiefer war, kaltes Weiß und unbarmherzige Nüchternheit. In Richtung Martigny begann der Nebel, locker zuerst, weiter hinten kompakt, undurchdringlich. Es nahm mir den Atem, wenn ich mir vorstellte, ich müßte hineinfahren.
    Van Vliets Sätze waren jetzt knapp, lakonisch. Manchmal verfiel er in einen analytischen, fast akademischen Ton, als spräche er über einen anderen. Vielleicht, dachte ich, war es auch, um die nächtliche Auflösung, den Verlust aller Konturen, vergessen zu machen. Ich war nicht unglücklich darüber. Doch es lag auch etwas Bedrohliches in dieser Beherrschtheit, etwas Beklemmendes, das zum Nebel paßte, der immer näher kam.
    Agnetha hatte Lea nach Saint-Rémy gefahren. Er war froh darüber und unglücklich über diese Empfindung. Ihre Augen waren trübe gewesen und die Lider schwer, als er ihr zum Abschied übers Haar gefahren war. Als das Auto anfuhr, saß sie wie eine Puppe aus Gips auf ihrem Sitz, den leeren Blick streng geradeaus gerichtet.
    Er holte Nikki aus dem Tierheim. Der Hund freute sich, sprang an ihm hoch. Doch er vermißte Lea, wollte nicht recht fressen. Langsam gewöhnte er sich an den neuen Lebensrhythmus. Er durfte neben Van Vliets Bett schlafen. Nur die vielen Stunden allein vertrug er nicht, so daß Van Vliet ihn ins Institut mitnahm. Ruth Adamek haßte Hunde. Wenn sie etwas zu besprechen hatten, telefonierten sie über den Flur hinweg. Eine andere Mitarbeiterin dagegen war vernarrt in Nikki. Wenn der Hund ihr die Hand leckte, gab es Van Vliet einen Stich.
    Nach einem halben Jahr fuhr er zu Lévy nach Neuchâtel und erfuhr, wie Lea damals versucht hatte, die Amati zu zerschlagen, als er ihr seine Braut vorstellte.
    Knapp und nüchtern erzählte Van Vliet von Stockholm.
    »Damals, das galt mir«, sagte Lévy, »aber jetzt …«
    Die beiden so ungleichen Männer tasteten sich aneinander heran. Van Vliet dachte an die Oistrach-Kadenz.
    »Ich habe keine Schülerin gehabt, die begabter gewesen wäre als Lea«, sagte Lévy. »Ich habe der Versuchung nicht widerstehen können, mit ihr zu arbeiten. Die Gefahr – ich wollte sie nicht sehen. Glauben Sie …?«
    Tagelang dachte Van Vliet darüber nach, was Lévy hatte fragen wollen. Er mochte den Mann immer noch nicht, kam sich neben ihm schwerfällig und ungehobelt vor. Aber er war nicht mehr der Gegner von einst. »Je suis désolé, vraiment désolé« , hatte er unter der Tür gesagt. Van Vliet hatte ihm geglaubt. Sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher