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Lea

Titel: Lea
Autoren: Pascal Mercier
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herausgefallen, zurück in die verzweifelte Ermattung des vergangenen Jahres. Doch dann sah ich einen Ausdruck in ihren Augen, der nicht dazu paßte, sondern in die entgegengesetzte Richtung wies. Es war immer noch Glanz, aber es war ihm etwas beigemischt, über das ich, ohne es zu verstehen, erschrak: Hier hatte sich etwas in Leas Seele entschieden, das die Regie über ihr Leben übernehmen würde. Und ich spürte in einer Mischung aus Beklommenheit und Glück, daß auch mein eigenes Leben in den Bann dieser geheimnisvollen Regie geraten und nie mehr so sein würde wie vorher.
    Hatte Lea vorher, während der Anspannung, in unregelmäßigen Stößen geatmet, die an ein Fieber denken ließen, zu dem die roten Flecke auf den Wangen paßten, so schien sie jetzt überhaupt nicht mehr zu atmen, und ihr erschlafftes Gesicht war von einer marmornen, totengleichen Blässe überzogen. Hatten ihre Lider vorher in unregelmäßigem Staccato hektisch gezuckt, so schienen sie jetzt gelähmt. Zugleich lag auch konzentrierte Absicht in ihrer Unbeweglichkeit – als wolle Lea ihnen nicht gestatten, den Blick auf die spielende Göttin zu unterbrechen, auch wenn es nur Unterbrechungen von Hundertstelsekunden wären, die sie zudem gar nicht bemerken würde.
    Im Lichte dessen, was später geschah und was ich heute weiß, würde ich sagen: Meine Tochter verlor sich in jener Bahnhofshalle.
    Ich würde es sagen, auch wenn es in den nächsten Jahren aussah, als habe sich das genaue Gegenteil ereignet: als habe sie in jenem Moment unversehens den Weg zu sich selbst angetreten, und das mit einer Hingabe, Inbrunst und Energie, wie sie nur wenigen gelingt. Erschöpfung lag auf den bleichen Zügen des kindlichen Gesichts, und wenn ich manchmal von dieser Erschöpfung träumte, dann war es die Erschöpfung, die noch vor ihr lag auf ihrem entsagungsvollen Weg durch die Welt der Töne, den sie in einem verzehrenden Fieber entlanggehen würde.
    Das Spiel der Frau ging mit einem schwungvollen, etwas pathetisch geratenen Bogenstrich zu Ende. Stille, die allen Bahnhofslärm verschluckte. Dann donnernder Applaus. Die Verbeugungen der Frau waren tief und dauerten ungewöhnlich lange. Geige und Bogen hielt sie weit vom Körper weg, wie um sie vor den eigenen, ungestümen Bewegungen zu schützen. Der Hut mußte befestigt sein, denn er blieb, wo er war, während die Woge des schwarzen Haars sich nach vorne ergoß und das Gesicht unter sich begrub. Richtete sie sich auf, flog das Haar wie in einem Sturm nach hinten, die Hand mit dem Bogen strich die Strähnen aus dem Gesicht, und nun schockierte einen das weiße Gesicht mit der Maske regelrecht, obwohl man es die ganze Zeit über vor sich gehabt hatte. Man wollte Freude auf dem Gesicht sehen, oder Erschöpfung, jedenfalls irgendeine Regung; statt dessen prallte der Blick an der gespenstischen Maske und am Puder ab. Trotzdem, der Beifall wollte nicht enden. Ganz langsam nur geriet die Menge in Bewegung und teilte sich in diejenigen, die es eilig hatten, und die anderen, die Schlange standen, um etwas in den Geigenkasten neben dem Podest zu werfen. Einige warfen einen erstaunten Blick auf ihre Armbanduhr und schienen sich zu fragen, wo die Zeit geblieben war.
    Lea blieb, wo sie war. Nichts an ihr hatte sich verändert, ihre Trance dauerte an, und immer noch war es, als versagten die Augenlider unter dem überwältigenden Eindruck des Gesehenen den Dienst. Es lag etwas unendlich Rührendes in ihrer Weigerung zu glauben, daß es vorbei war. Der Wunsch, es möge weitergehen, für immer weitergehen, war so stark, daß sie auch dann nicht aufwachte, als sie von einem eiligen Reisenden angerempelt wurde. Sie blieb mit der bewußtlosen Sicherheit einer Schlafwandlerin in der neuen Stellung, den Blick unverwandt auf Loyola gerichtet, als sei diese eine Marionette ihres Blicks, der sie zum Weiterspielen zwingen könnte. Darin, in der Unbeirrtheit dieses Blicks, kündigte sich Leas unerhörte und am Ende zerstörerische Festigkeit des Willens an, die in den nächsten Jahren immer deutlicher ans Licht treten sollte.
    Loyola, das zeigte sich jetzt, war nicht allein. Ein großer, dunkelhäutiger Mann übernahm mit einemmal die Regie. Er nahm ihr Geige und Bogen ab, reichte ihr die Hand, als sie vom Podest herabstieg, und dann räumte er alles mit einer Geschicklichkeit und Schnelligkeit zusammen, die nicht nur mich verblüffte. Es schienen kaum mehr als zwei, drei Minuten vergangen zu sein, nachdem das letzte Geldstück in
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