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Lauras Bildnis

Titel: Lauras Bildnis
Autoren: Henning Boetius
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Ideal.
    Francesco macht eine Entdeckung, die revolutionär ist: Handschriften sind nicht immer autorisiert. Es gibt Fehler, Fälschungen, verdorbene Stellen. Man muß, um der Wahrheit des Textes nahe zu kommen, mehrere Quellen kollationieren, muß Konjekturen anbringen, den Urtext restaurieren durch sorgfältigen Vergleich. Diese Skepsis ist neu gegenüber dem kindlichen Vertrauen der Zeit in schriftliche Zeugnisse. Petrarca ist der Erfinder der modernen Textkritik.
    Auch seine eigene Poesie beginnt zu sprudeln. Am 6. April 1327 findet jene Begegnung mit Donna Laura de Sade in der Kirche der Clarissinnen zu Avignon statt, die die Initialzündung seines lyrischen Werkes wird. Man hat schon zu Lebzeiten Petrarcas die Authentizität dieser ‘Liebe auf den ersten Blick’ angezweifelt. Petrarca hat ein Geheimnis daraus gemacht. Er hat es verstanden, eine gigantische Mystifizierung in zahllosen Sonetten und Kanzonen zu betreiben, die ungeahnte Folgen für die Literaturgeschichte haben sollte. Es ist müßig, die historischen Fakten recherchieren zu wollen. Es gibt endlose Theorien: Hat er sie leiblich geliebt oder nicht, hatte Donna Laura eine Stupsnase (ich neige aus privaten Gründen zu dieser Annahme), hat er sie durch einen Geheimgang besucht, den man in seinem vermeintlichen Haus in Vaucluse entdeckt zu haben glaubte?
    Derartige Spekulationen sind deshalb müßig, weil Phantasie und Realität vollkommen beabsichtigt eine Ehe eingehen im Werk des Dichters, die einzig um der Kinder willen interessiert. In Bologna hatte Petrarca mit dem ‘dolce stilnuovo’, dem ‘süßen Stil’, Bekanntschaft gemacht, den vor allem Dante gegen die erstarrte höfische Literatur entwickelte. Mystik, Antikes, Erotik, Christentum mischten sich in ihm. Petrarca verfeinert nun diesen Ton, indem er die Einflüsse der provençalischen Troubadours hinzunimmt und vor allem eine äußerst starre und präzise Form ergänzt: das Sonnett, das ihm seine bis heute übliche Struktur verdankt. Entscheidend an dieser Neuerung ist, daß nun eine Synthese möglich ist aus dem privaten Erleben starker Gefühle und der Klarheit antiker Form.
    Renaissance heißt nicht nur Wiedergeburt antiken Geistes, es heißt Neugeburt eines von der eigenen Gefühlsintensität überraschten Individuums, das, um nicht zu zerfließen, sich der Strenge poetischer Gesetze überantwortet. Hieraus entsteht jene seltsame Spannung, die Dichtung von Rang bis heute vermittelt. Die eigene Fremdheit der eigenen Nähe gegenüber. Petrarca wird zum Meister der artikulierten Doppelempfindungen, die er in zahllosen Oxymora beschwört.
    Er ist selbst ein wandelndes Oxymoron. Er ist fromm und zugleich agnostizistisch. Er pflegt eine große, zur Religion der Enthaltsamkeit überhöhte Liebe und hat zugleich seine kleinen praktischen Liebschaften. Er bringt Jahre in der Einsamkeit von Fontaine de Vaucluse zu, und er ist dennoch städtisch orientiert. Er verachtet den Ruhm, und er läßt sich 1341 auf dem Capitol in Rom zum Dichter krönen. Er ist Philologe und Poet. Er ist Bücherwurm, und er entdeckt die Faszination des Bergsteigens. Reisen nach Frankreich, Deutschland, Flandern, nach Prag kombiniert er mit dem Eremitentum seiner Zurückgezogenheit. Fast wirkt er ein wenig schizophren und somit von einer für die Moderne typischen seelischen Krankheit befallen.
    Man kann das Mittelalter als enge, familiäre Zelle sehen, in der jeder auf Gedeih und Verderb seinen Platz hatte. Der Ausbruch aus dieser Zelle führt unweigerlich zur Spaltung der Persönlichkeit in einer Doppelexistenz, in der die neugewonnene Freiheit und die Fixierung an die alte Geborgenheit miteinander konkurrieren. Von nun an gibt es den Zerrissenen. Hamlet, Werther sind Exponenten. Petrarca ist der Prototyp.
    Auch als Literat ist Petrarca ein Oxymoron. Seinen zeitgenössischen Ruhm verdankt er vor allem seiner lateinischen Dichtung. Die italienischen Laura-Gedichte erleben ihren Boom erst später. Im 15. und 16. Jahrhundert setzen sie sich auf inflationäre Weise durch als Petrarkismus. Von nun an scheint es kaum einen Poeten mehr zu geben, der nicht in Doppelempfindungen oder Doppelformulierungen schwelgt. Shakespeare macht sich darüber lustig und ist zugleich einer der besten Adepten dieser Technik. Bis hin zu Celans »schwarzer Milch der Frühe« und darüber hinaus kann sich kaum ein Schreibender dem Oxymoron versagen. Auch der Surrealismus lebt im wesentlichen von der Vereinigung der Gegensätze, der Begegnung einer
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